Geglättete Erinnerung

von Sebastian Kirschner

Als anlässlich der diesjährigen Eröffnung der Leipziger Buchmesse die lettische Außenministerin und künftige EU-Kommissarin Sandra Kalniete mit den Worten »[…] the two totalitarian regimes – Nazism and Communism – were equally criminal« ihr neues Buch und damit ihr eigenes Familiengedächtnis bemühte und daraufhin der Vizepräsident des Zentralrates der Juden Salomon Korn verbittert den Saal verließ, verstand der Grossteil der Anwesenden die Welt nicht mehr. Korn kritisierte tags darauf die Verharmlosung des Vernichtungsprozesses der lettischen Juden sowie die gekonnte Umschiffung der lettischen Kollaboration durch die baltische Repräsentantin und wies, nicht ohne Verbitterung, auf den unaufgearbeiteten Antisemitismus hin, der sich heute – im Kontext erinnerungspolitischer Abwehr – wieder ausbreite.(1)

Das beschriebene »Verschleifen von Dimension«, also die Lösung der Shoah aus ihrer Singularität, ist hierzulande nicht neu, expandiert aber zunehmend europäisch: Bereits im Historikerstreit Anfang der Achtziger Jahre wurde an der totalisierenden Systemfront gekämpft, und auch Jahre zuvor verband man innerhalb der deutschen Bundesregierung die »Wiedergutmachung« an den Juden nicht selten mit Entschädigungsforderungen von deutschen »Heimatvertriebenen«. Wenn die Totalitarismusthese heute innerhalb eines »Erinnerungsbooms« ihr geschichtsmächtiges Revival erlebt, dann ist dies vorrangig im Kontext einer europäischen Erinnerungskultur zu betrachten, die den Nationalsozialismus sowie den »Zivilisationsbruch Auschwitz« (Adorno) zum Anlass neuer Identitätsbildungsprozesse nimmt. Die Shoah wird hier als Schlüsselereignis für eine neue Erinnerungsform benannt und steht für die Herausforderung einer neuen Schicksalsgemeinschaft.(2) Nicht zuletzt die Beendigung des Kalten Krieges, die zunehmend auch mit einer neuen Erinnerung an Auschwitz – anstelle des atomaren Genozids – einherging, und das damit verbundene Aufbrechen verschiedener osteuropäischer Gedächtnisse fördert diesen innereuropäischen Dialog der Erinnerungen. Am sichtbarsten erscheint dieser Dialog hinsichtlich der Wiederherstellung von Privateigentum im ehemaligen politischen Osteuropa, deutlich wird er allerdings auch in der Auferstehung der »Vertriebenenfrage«.

(2) Daniel Levy/Nathan Sznaider, Erinnerungen im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt/Main 2001, S. 14.

Universelle Anwendung

Seit einigen Jahren wird der Ausdruck und Begriff des »kollektiven Gedächtnis«, mit dem nach Maurice Halbwachs erinnerungskulturelle und gesellschaftliche Rekonstruktionen und Dynamisierungen von Vergangenem beschrieben werden, nunmehr so routiniert verwandt, dass mitunter seine Gestalt verschwindet. Ursprünglich als Kategorie vorgebracht, um »scheinbar abgebrochene(n) historische(n) Prozesse(n)«(3) eine Wiederkehr in die Geschichte zu ermöglichen, wird heute, wenn von Gedächtnis die Rede ist, von einem Paradigmenwechsel gesprochen, der Erinnerungsmomente primär hinsichtlich seiner zeiträumlichen Bewertung transnationaler Kollektive beschreibt.

(3) Dan Diner, Von Gesellschaft zu Gedächtnis. Über historische Paradigmenwechsel, in: ders.: Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003, S. 11.

Der Shoah kommt dabei die Rolle des »Code des Bösen« zu. Die Erinnerungen an die Vernichtung der Jüdinnen und Juden liefern, so die Historiker Levy/Sznaider, in einer globalisierten Welt den moralischen Maßstab eines neuen kosmopolitischen Erinnerungs-Imperativ, in dem die Shoah zwar als singuläres Ereignis auftritt, gleichzeitig aber dazu benutzt wird, die Konflikte der Welt zu deuten. Zwar sind die Versuche, das Verbrechen an den Jüdinnen und Juden zu erklären, weiterhin als die größte Herausforderung zu betrachten, allerdings können auch die europäischen Spannungen, die in Folge der Beendigung des Kalten Krieges entstanden sind, als historische Brüche bezeichnet werden, in denen Gedächtnis eine »Geschichtsfunktion« ersetzt.

Die Entwicklungen der Beck’schen »Zweiten Moderne«(4) lassen das Gedächtnis nicht weiter in einem dichotomen Verhältnis zwischen Universalismus und Partikularismus verweilen, stattdessen bilden sich Überlagerungsprozesse. Dichotomien zwischen Opfer und Täter lösen sich genauso auf, wie zwischen Retter und Gerettetem. Der Begriff des kollektiven Gedächtnis trennt sich dabei aus seiner nationalen Konnotation heraus und entwickelt zunehmend dialogische Vorstellungen. Nicht mehr die Eingrenzung von Erinnerung sondern dessen Entortung – räumlich wie zeitlich – steht im Zentrum.

(4) Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Frankfurt/Main 1997

Europäische Zivilität im Verhältnis zu Auschwitz

Die europäische Suche nach einer gemeinsamen Identität treibt neben philosophischen (von Rousseau über Kant bis Marx und zurück), juristischen (vom Code Napoleon zu Maastricht bis zur EU-Verfassung) oder ökonomischen (von wirtschaftlicher corporate identity bis hin zu Einfuhrzöllen) eindringlichen Identitätsformeln auch euro-erinnerungspolitische Blüten. Als mutmaßlicher Hintergrund gilt die funktionelle Verschwisterung von kollektivem Gedächtnis und ideologischer Verwertbarkeit. Der israelische Historiker Moshe Zuckermann stellte bereits vor Jahren eine ideologische Vereinnahmung der Shoah im öffentlichen Diskurs fest, indem er eine durch Universalisierung des Geschichtsereignisses begründete »Entjudung« des Holocausts ausmachte.(5) Erinnerung kommt dabei eine ähnlich hegemoniale und vereinheitlichende Wirkung wie Geschichte zu.

(5) Moshe Zuckermann, Täter und Opfer, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 49 (1999), S. 32

Wurde einst das westliche Christentum, die lange Tradition des Abendlandes oder das Recht Roms angeführt, um eine gemeinsame Linie des Gleichen zu kreieren, beruft man sich heute zusätzlich – und häufig vorderrangig – auf einen erinnerungspolitischen Wertekatalog des antigenozidalen Einvernehmens, der der reinen »Wertegemeinschaft Europa« den Rang abläuft. Zwar sind klassische europäische Selbstzuschreibungen, wie die Wohlfahrtsstaatlichkeit, damit verbunden die Befriedung von Klassengegensätzen oder Bezugnahmen auf den lutherischen Protestantismus, weiterhin mitlaufende Kriterien um die Einigkeit zu umreißen, die gemeinsame Erinnerung steht dem aber, selbst wenn die gemeinsamen Erinnerungsrituale noch in den Kinderschuhen stecken, in nichts nach.


(Sebastian Kirschner ist Kulturwissenschaftler aus Leipzig, schrieb seine Magisterarbeit zu den Diskursen über die Entschädigungen für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und arbeitet gerade an einem Buch über Vergangenheitspolitik.)

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