Was ist Residenzpflicht?

von Anke Schwarzer

Der Einkauf im nächstgelegenen Supermarkt, ein Besuch bei Verwandten, ein Ausflug mit dem »Schönen Wochenendticket« der Bundesbahn oder ein Fußballspiel auf dem Platz der gegenüberliegenden Straßenseite – alltägliche Tätigkeiten können für Flüchtlinge zum Verhängnis werden. Seit 1982 unterliegen Asylsuchende, deren Anträge noch bearbeitet werden, einer Aufenthaltsbeschränkung nach dem Asylverfahrensgesetz §56 – die sogenannte Residenzpflicht. Sie dürfen den Bezirk der Ausländerbehörde, in dem sie gemeldet sind, nicht verlassen. Da sich ein Asylverfahren unter Umständen über einen sehr langen Zeitraum erstrecken kann, führt diese Regelung im Extremfall dazu, dass ein Flüchtling bis zu zehn Jahren an dieses Gesetz gebunden bleibt. Eine Genehmigung für eine kleine Reise zu erhalten ist äußerst schwierig. Zuweilen müssen Asylsuchende für ihre Spazierfahrt oder den Arztbesuch auch noch bezahlen: zwischen 15 und 20 Mark kostet eine Erlaubnis.

Noch teurer wird es, wenn sie ohne Genehmigung außerhalb des Landkreises von der Polizei kontrolliert werden. Und das passiert schnell, da die Sondergesetze für Flüchtlinge der Polizei genügend Anlass geben, ausländisch aussehende Menschen auf Bahnhöfen oder Raststätten herauszupicken und zu kontrollieren. Auch Polizeirazzien in Asylunterkünften sind an der Tagesordnung.

Neben der Polizei machen auch BürokratInnen in den zuständigen Behörden den Flüchtlingen das Leben schwer: Sie befehligen, wo sich ein Flüchtling aufzuhalten hat und wo nicht. Sie entscheiden – oft von Landkreis zu Landkreis unterschiedlich – wohin ein Asylsuchender reisen darf, wie oft er einen Freund besuchen darf, wann er Verwandte sehen kann und ob er auf ein politisches Treffen fahren darf.

Die offizielle Begründung für die Residenzpflicht: Sicherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, bessere Verteilung der öffentlichen Lasten und schnellere Erreichbarkeit im Asylverfahren.

Was bedeutet Residenzpflicht?

Die Einschränkung der Reisefreiheit für Asylsuchende hat neue unsichtbare Grenzen in Deutschland geschaffen. Politisch gezogene »innerdeutsche Grenzen« tasten die freie Entfaltung der Persönlichkeit der Asylbewerber in ihrem Wesensgehalt an. Mit der Residenzpflicht wird die Versammlungs- und Meinungsfreiheit für Asylsuchende eingeschränkt. Möglichkeiten, soziale Kontakte zu pflegen, werden behindert. Flüchtlingskinder können mit anderen Kindern in der nah gelegenen Stadt nicht zusammentreffen. Auch die Religionsfreiheit wird beschnitten, wenn Asylsuchenden die Fahrt zur Moschee oder zum Gemeindetreffen verwehrt wird. Das Recht auf Information können viele Flüchtlinge nur in weiter entfernten Städten wahrnehmen, weil in den Gegenden, in denen sie zwangsweise untergebracht sind, oft kulturelle und politische Leere herrscht.

Die Residenzpflicht schränkt nicht nur Freiheitsrechte von Flüchtlingen ein und demütigt sie, wenn sie bei Behörden um Erlaubnis betteln müssen oder wenn sie kontrolliert werden. Residenzpflicht kann auch lebensgefährlich sein. Folge sind oft verzweifelte Fluchtversuche, die bis hin zu Verletzungen oder zum Tod der Flüchtenden führen können. Aus Angst wegen eines Verstoßes gegen die Residenzpflicht sprangen am Abend des 7. Oktobers 2000 zwei Vorstandsmitglieder der African Refugees Association aus dem 4. Stock eines privaten Wohnhauses in Hamburg. Die zwei Frauen waren alleine in dieser Wohnung, als die Polizei klingelte. Als Asylsuchende aus Togo besaßen sie gültige Aufenthaltspapiere für die Bundesrepublik Deutschland, waren allerdings in einem anderen Bundesland als Flüchtlinge registriert. Durch den Sprung aus dem Fenster hat eine der Frauen hat mehrere Wirbelbrüche erlitten, die zweite Frau hat eine Fraktur der Wirbelsäule davongetragen und muss davon ausgehen, ihr Leben im Rollstuhl zu verbringen.

Bei mehrmaligen Verstößen gegen die Residenzpflicht droht eine Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr, eine Geldstrafe bis zu 5000 Mark oder der Ausweisungsbescheid. Nach Ansicht des Landratsamts Wartburgkreis beeinträchtigen unerlaubte Reisen »die öffentliche Sicherheit und Ordnung maßgeblich« und verletzen die Interessen der Bundesrepublik erheblich. Deshalb soll ein mehrmaliger Verstoß gegen die Residenzpflicht zur Ausweisung des Asylsuchenden führen. Dabei wird nicht erklärt, welche Rechtsgüter wegen ungenehmigter Reisen in Gefahr stehen. Vielmehr argumentiert die Behörde generalpräventiv: Andere Ausländer sollen abgeschreckt und »veranlasst werden, sich in der Bundesrepublik Deutschland ordnungsgemäß zu verhalten«. Insbesondere in Kombination mit der Zwangsunterbringung in sogenannten Sammelunterkünften in oft abgelegenen Gebieten gehört die Residenzpflicht zum asylrechtlichen Instrumentarium deutscher Abschreckungspolitik.

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. veruteilt die strafrechtliche Sanktionierung von Flüchtlingen wegen des bloßen Übertretens von Landkreisgrenzen: »Allein die Abschaffung diskriminierender, grundrechtseinschränkender Sondergesetze gegen Asylsuchende wäre ein angemessener Beitrag der politischen Klasse im vielbeschworenen ’Ruck gegen Rechts’,« so das Komitee im Oktober 2000.

Eine Landkarte, welche die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen abzubilden versuchte, sähe aus wie eine Karte der deutschen Kleinstaaten im 18. Jahrhundert, so Bernd Mesovic von Pro Asyl im April 2001. Und: »Dahin, nämlich ins 18. Jahrhundert, gehört auch das Wort Residenz. Flüchtlinge aber residieren nicht, sie hausen unter provisorischen Lebensumständen, wie ihnen die Rechtssprechung beim Thema Mindestanforderungen an Gemeinschaftsunterkünfte ins Stammbuch geschrieben hat. Damit soll ihnen selbst und anderen vor Augen geführt werden, dass ihr Aufenthalt nur ein provisorischer ist (auch wenn er jahrelang dauert).« Auch der UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, kritisiert seit den 80er Jahren die »einzigartigen Abschreckungsmaßnahmen gegen Asylbewerber«.

Die Flüchtlingsorganisationen The Voice und die Brandenburger Flüchtlingsinitiative vergleichen die Residenzpflicht mit den Passgesetzen des südafrikanischen Apartheidsystems: »Flüchtlinge in Deutschland sind das Opfer des Residenzpflichtgesetzes, eines Systems von Aufenthaltszuweisungen und -beschränkungen, vergleichbar mit der Ära der rassistischen Apartheid in Südafrika. Auch Deutschland hat seine ’Passgesetze’. Es ist Flüchtlingen verboten, sich in Deutschland frei zu bewegen. Sie dürfen den ihnen als Wohnort zugewiesenen Landkreis nicht verlassen und sind verpflichtet, in einer ihnen zugewiesenen Flüchtlingsunterkunft (oft abgelegen oder mitten im Wald) zu wohnen.«

Viele Flüchtlinge weisen auch darauf hin, dass die Residenzpflicht (neben zahlreichen anderen Gesetzen wie zum Beispiel das sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz) Asylsuchende nicht nur in ihren Rechten beschränkt, sondern sie auch gegenüber den Deutschen als »nicht gleichwertig«, als »anders«, »weniger wichtig« und »schwach« markiert. So Cornelius Yufanyi von The Voice: »Die Gesetze machen uns Flüchtlinge schwach und so sehen uns auch die Deutschen. Diese Gesetze sind der Nährboden für rechte Gewalt.« Und Christopher Nsoh von der Brandenburger Flüchtlingsinitiative: »Die deutschen Gesetze haben ’minderwertige’ Menschen entstehen lassen.«

Nächster Artikel: Widerstand gegen die Residenzpflicht

Dossier #1: Debatten, Aktionen und Projekte, die sich mit der sogenannten Residenzpflicht auseinandersetzen und dabei Methoden der medialen Vermittlung und Vernetzung erproben.

  1. Bewegungsfreiheit
  2. Was ist Residenzpflicht?
    (Anke Schwarzer)
  3. Widerstand gegen die Residenzpflicht
    (Anke Schwarzer)
  4. Residenzpflicht – keine Änderung in Sicht
    (Anke Schwarzer)
  5. Für das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit
  6. <type=radio~border=0>
  7. The Flüchtlings-Voice
  8. »Wir müssen aktiver werden …« (Indymedia-Interview)
  9. Links zum Thema
  10. Termine