»Rechtsextremismus ist immer ein Konjunkturthema gewesen.«

Seit 1990 berichtet Frank Jansen für den Berliner Tagesspiegel über die Ursachen und Auswirkungen des Rechtsextremismus. In seinen Reportagen und Analysen hat er sich mit den Motivationen von Neonazi-Skinheads auseinandergesetzt, vor allem aber die Lebens- und die Todesumstände der Opfer bekannt gemacht. Im Interview mit D-A-S-H erklärt er, warum die rechte Gewalt in Ostdeutschland so schwer zu bekämpfen ist und weshalb der Rechtsextremismus vielerorts aus den Medien verschwunden ist.

D-A-S-H: Im September 2000 veröffentlichte der Tagespiegel gemeinsam mit der Frankfurter Rundschau die vielbeachtete Chronik »Den Opfern ein Gesicht geben«. Die Redakteure hatten zahlreiche Todesfälle seit 1990 untersucht und das ganze Ausmaß rechter Gewalt in den Schicksalen von 93 Menschen dokumentiert, die von Rechten getötet wurden. Wie viele Opfer sind in den vergangenen zwei Jahren dazugekommen?

Frank Jansen: Wir arbeiten jetzt an einer neuen Chronik. Im letzten Jahr haben wir die Fälle von vier Todesopfern recherchiert, dazu gab es eine Reihe von ungeklärten Fällen, bei denen wir vermuten, dass rechtsextreme Hintergründe bestehen. In diesem Jahr sind noch zwei weitere Fälle dazu gekommen, so dass wir auf eine sichere Zahl von 99 Opfern rechter Gewalt seit 1990 kommen.

Aus dem jüngsten Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz geht ein deutlicher Rückgang rechter Gewalt hervor. Danach hat es in Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2001 keine rechtsextremistischen Gewalttaten gegeben.

Das ist natürlich Unsinn. Im Jahre 2001 wurde ein neuer Zählmodus eingeführt, der ein großer Fortschritt war, dem sich aber einige Bundesländer nur sehr widerwillig angeschlossen haben. Bis dahin wurden lediglich rechtsextremistische Gewalttaten registriert, die sich unmittelbar gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richteten. Wenn ein betrunkener Jugendlicher einen Obdachlosen schlägt, will er mit seiner Tat aber in der Regel nicht die Verfassung zu Fall bringen. Deshalb fielen solche Taten aus der Statistik heraus. Mit der Reform wurden erstmals Opfergruppen definiert. Wenn jetzt ein Obdachloser aus ungeklärten Motiven angegriffen wird, kann die Polizei zunächst von einen rechten Hintergrund ausgehen und die Tat als rechtsmotivierte Gewalttat erfassen.

Demnach wäre in der Statistik kein Rückgang, sondern ein Anstieg rechter Gewalttaten zu erwarten gewesen.

In Brandenburg wurden dementsprechend mehr rechte Gewalttaten und vor allem Propagandadelikte registriert. Insgesamt gibt es aber in den neuen Bundesländern starke Widerstände gegen die Reform. Aus der Angst, bei steigenden Zahlen als braune Hochburgen diffamiert zu werden, haben einige Länder versucht, das Zahlenmaterial zu frisieren. In Mecklenburg-Vorpommern hatte die Polizei im Jahr 2001 etwa 40 rechtsmotivierte Gewalttaten gezählt, diese jedoch nicht als rechtsextremistisch eingestuft. Da das Bundesamt für Verfassungsschutz aber, angeblich oder tatsächlich, allein nach extremistischen Gewalttaten fragte, zog man sich in Schwerin darauf zurück, gar keine rechten Gewalttaten anzugeben. Doch auch die Zahlen rechts-motivierter, aber nicht unbedingt rechtsextremistischer Straftaten in anderen Bundesländern sind in der Statistik des Bundesamtes für Verfassungsschutz nicht wiedergegeben.

Otto Schily wertete die Zahlen als Erfolg der Anstrengungen der Bundesregierung. Im Jahr 2000 hatten der Bund und die Länder Förderprogramme aufgelegt, um Initiativen gegen rechts zu unterstützen. Den Gewalttätern sollte durch eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft deutlich gemacht werden, dass sie keine Zustimmung genießen. Ist in den Kommunen ein Klimawechsel spürbar?

Kaum. Als Manfred Stolpe im Jahr 2000 erklärte, dass er den Rechtsextremismus unterschätzt hatte und dies als schweren Fehler betrachte, sprach er für viele Kommunalpolitiker in Brandenburg. Aber die Masse der Bevölkerung, so mein Eindruck, wird durch die Programme gegen rechts nicht erreicht. Die Freie Universität Berlin und die Universität Leipzig haben in einer aktuellen Studie, bei der jeweils tausend Westdeutsche und Ostdeutsche befragt wurden, einen konstanten Anteil von 30% Ausländerfeinden in Ostdeutschland festgestellt, während in Westdeutschland rechtsextremistische und antisemitische Einstellungen zunehmen. Diese Haltung bildet einen idealen Nährboden für die Gewalt. Weder der Politik in Verbindung mit den Medien noch den Anti-Rechts-Initiativen ist es gelungen, die verhängnisvolle Verknüpfung von Alltagsrassismus und jugendlicher Vollstreckergewalt aufzubrechen. Junge Skinheads fühlen sich durch das gesellschaftliche Umfeld nach wie vor hinreichend legitimiert, Menschen, die sie als minderwertig betrachten, anzugreifen.

Die Medien haben sich sehr stark, auch auf politischer Ebene, gegen rechts engagiert. Was konnten sie bewirken?

Der Aufstand der Anständigen, der im Sommer 2000 verkündet wurde, war zunächst ein reines Medienthema. Das änderte sich, als im November 2000 etwa 200.000 Menschen in Berlin gegen Rechtsextremismus auf die Straße gingen. Dennoch bleibt die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung passiv. Dazu kam, dass schwere Fehler gemacht wurden. Besonders die Hysterie um den ungeklärten Todesfall eines Kindes in Sebnitz im November 2000 beschädigte die Glaubwürdigkeit der Medien. In der Folge wurde das Thema Rechtsextremismus stark zurückgefahren. Die islamistischen Angriffe auf die USA am 11. September 2001 ließen den Rechtsextremismus schließlich völlig in den Hintergrund rücken.

»Der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik ist zu gefährlich. Das Thema darf nicht der Medienkonjunktur unterliegen und nur dann Schlagzeilen machen, wenn die Nazis wieder zugeschlagen haben.« So hieß es im August 2000 zur Gründung des Netz gegen Rechtsextremismus, das von zahlreichen Medien unterstützt wurde. Nach zwei Jahren steht das Projekt vor dem Aus, weil keiner der Medienpartner bereit ist, die Finanzierung weiterzuführen.

Rechtsextremismus ist immer ein Konjunkturthema gewesen. Mit den Krawallen in Rostock und Hoyerswerda kam das Thema in die Schlagzeilen. Als die Polizei aufwachte und einige Neonazi-Vereinigungen verboten wurden, flaute es wieder ab. 1996 brach eine neue Gewaltwelle los, die aber nicht mehr die frühere Aufmerksamkeit erhielt. In der Bevölkerung wie bei den Medien herrschte Überdruss vor. Man wollte von Rechtsextremismus nichts mehr hören. Bis ins Jahr 2000 wurden auch rassistische Morde wie der an dem Mosambikaner Alberto Adriano in Dessau nur als Alltagsgeschichte zur Kenntnis genommen. Man berichtete und bedauerte, und ging wieder zur Tagesordnung über. Das änderte sich schlagartig mit dem Anschlag im Juli 2000 in Düsseldorf. Hier kamen mehrere Faktoren zusammen, die dazu führten, dass der Rechtsextremismus plötzlich wieder als ernstes Problem angesehen wurde: Es war kein Überfall mit einer Baseballkeule, sondern ein Sprengstoffanschlag, es geschah nicht im Osten, sondern im wohlanständigen Westen und es waren Menschen jüdischer Herkunft betroffen.

Man kann in der einschlägigen Berichterstattung den Eindruck gewinnen, rechte Gewalt sei vor allem gegen Asylsuchende und Migranten gerichtet. Dass beispielsweise in Brandenburg die Hälfte der Angriffe alternativen Jugendlichen gilt, wird nicht deutlich. Zeichnen die Medien ein verzerrtes Bild?

In der Wahrnehmung der Medien gibt es eine makabre Opferhierarchie. Angriffe auf Menschen jüdischer Herkunft werden anders gewertet als Angriffe auf Afrikaner, Linke, Punks oder Obdachlose. Die Missachtung mancher Opfergruppen ist absolut inakzeptabel. Ich wünsche mir, dass die Aufmerksamkeit, die jüdischen Opfern als Konsequenz aus der nationalsozialistischen Vergangenheit völlig zu Recht erhalten, allen Menschen, die von Rechten angegriffen werden, zuteil wird. Für die jüdischen Opfer rechter Gewalt ist die Missachtung, die anderen Opfern widerfährt, ja auch gefährlich – denn dies bedeutet, dass rechte Gewalt nur als Teilproblem und eben nicht in seiner vollen Dimension wahrgenommen wird.

Organisationen, die sich dem Schutz und der Hilfe für die Opfer rechter Gewalt widmen, kritisieren, dass sich die Öffentlichkeit viel stärker mit den Problemen der Täter als mit jenen der Opfer auseinander setzt.

Seit dem Sommer 2000 ist das Medieninteresse an den Opfern etwas stärker geworden. Ich habe auch den Eindruck, dass die Brandenburger Opferperspektive und ähnliche Beratungsstellen eine gewisse Anerkennung für ihre Arbeit finden. Der Bundestag hat einen Fonds in Höhe von zehn Millionen Mark zur Verfügung gestellt, aus dem einige Opfer schell und unbürokratisch entschädigt wurden, andere jedoch nicht. Es gibt möglicherweise mehr Fälle, in denen Menschen eingreifen, wenn ein Afrikaner in der S-Bahn attackiert wird. Das ist allerdings nach wie vor nicht die Regel. Angesichts des tief verankerten Alltagsrassismus ist viel Empathie für die Opfer nicht zu erwarten. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund zur Entwarnung. Rechte Gewalt und Rassismus bleiben ein Dauerproblem. Für einen nachhaltigen Wandel fehlt der Zivilgesellschaft die Kraft.

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Dossier #6: Die Kampagne von agOra -- der Arbeitsgemeinschaft der Beratungsprojekte für Opfer rassistischer, rechtsextremistischer und antisemitischer Gewalt -- setzt sich für ein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht von Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten ein, die Opfer rassistisch motivierter Gewalt wurden.

  1. Bleiberecht für Opfer rassistischer Gewalt
  2. Die Kampagne
  3. »Rechtsextremismus ist Konjunkturthema«
  4. Die Opfer in den Blickpunkt rücken
    (Opferperspektive e.V.)
  5. Opferberatungsstelle ABAD
    (Friedrich C. Burschel und Rahel Krückels)
  6. Interview mit Bundestagspräsident Thierse
  7. Regionale Opferberatungsprojekte
  8. Links zum Thema