»Und für besondere Zweifelsfälle gibt es im neuen Zuwanderungsgesetz eine Härtefallregelung.«

Interview von D-A-S-H mit Bundestagspräsident Wolfgang Thierse

Wolfgang Thierse (SPD) fordert bereits seit längerem mehr Schutz für die Opfer rechter Gewalt. Mit seiner Äußerung »Ausländern nach rechtsextremistischen Übergriffen ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland zu gewähren«, setzte er in seiner Position als Bundestagspräsident einen einzigartigen Akzent. Auch in der gesellschaftlichen Analyse der Ursachen des Rechtsextremismus in Deutschland stellte er in einer Bundestagsdebatte zum Thema fest, »dass es nicht mehr um ein Randphänomen geht, sondern dass die Gefährdung bis weit in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht. Ausländerfeindlichkeit ist eben bei nicht wenigen Menschen ein fast alltäglicher Teil des Alltagsbewusstseins geworden.« Im Interview mit D-A-S-H erläutert Wolfgang Thierse sein Engagement für die Bleiberechtsforderung und beschreibt, welche Voraussetzungen für eine Umsetzung dieser Forderung in Politik und Gesellschaft geschaffen werden müssen.

D-A-S-H: Der Dachverband der Opferberatungsstellen »agOra« versteht die Schaffung eines Bleiberechts für die Opfer rassistischer Gewalt vor allem als politisches Signal, das als Reaktion auf die Angriffe und dem ihm zugrunde liegendem Klima rassistischer Vorurteile wirken soll. Wie begründen Sie Ihre gleichlautende Forderung vom 5.5.2001 (in der »Magdeburger Volksstimme«) heute?

Wolfgang Thierse: Mich hatte damals vor allem empört, dass im Fall eines Opfers der Hetzjagd von Guben die Traumatisierung durch erlittene rechtsextremistische Gewalt zur Begründung der beabsichtigten Abschiebung herangezogen worden war. Das ist zynisch und spielt den Extremisten in die Hände. Ich bin deshalb froh, dass es schließlich nicht zur Abschiebung gekommen ist.

Wie drückt sich diesbezüglich Ihr Standpunkt und Engagement in Ihrem politischen Handeln aus?

Ich habe mich schon früh dafür eingesetzt, dass wir die Zuwanderung vernünftig regeln – sowohl im Sinne der Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung, als auch im Sinne vermehrter Anstrengungen zur Integration der Einwanderer. Daneben unterstütze und ermutige ich bekanntlich Bürgerengagement gegen alle Formen des Rechtsextremismus und der Ausländerfeindlichkeit.

Wurde von Ihnen diese Forderung auch im Zuge der Neuregelung des Zuwanderungsgesetzes erhoben?

Das Zuwanderungsgesetz verändert die gesamte bisherige sogenannte Ausländerpolitik. Es erfasst auch die politische Verfolgung aus rassistischen Motiven und die nichtstaatliche Verfolgung, die in diesem Gesetz erstmals ausdrücklich genannt wird. Auch die Möglichkeiten zum Schutz der Opfer sind deutlich verbessert.

Warum konnte eine entsprechende Klausel nicht im Zuwanderungsgesetz verankert werden?

Ich gehe davon aus, dass das Zuwanderungsgesetz dem Anliegen, die Opfer rassistischer Gewalt zu schützen, auch ohne explizite Regelung Rechnung trägt. Und für besondere Zweifelsfälle gibt es eine Härtefallregelung.

Bietet die im Gesetz erwähnte Härtefallregelung eine adäquate Lösung?

Das hoffe ich sehr, denn die neue Härtefallregelung kann aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen wirksam werden. Damit ist es grundsätzlich möglich, dass auch Opfer rassistischer Gewalt sie in Anspruch nehmen. Die konkrete Umsetzung dieser Regelung liegt jetzt in der Hand der einzelnen Länder.

Wie realistisch schätzen Sie die Umsetzung der Forderung nach einem Bleiberecht für Opfer rassistischer Gewalt in Zukunft ein?

Angesichts der grundlegenden Veränderungen, die mit dem Zuwanderungsgesetz auf den Weg gebracht worden sind, erwarte ich nicht, dass behandlungsbedürftige oder gar dauerhaft erkrankte Gewaltopfer zukünftig noch ohne weiteres abgeschoben werden.

Welche Voraussetzungen müssen dafür in Politik und Gesellschaft geschaffen werden?

Wenn Bürgerinitiativen, Kirchen, Beratungsstellen weiterhin mithelfen, dass in solchen Fällen alle Entscheidungsspielräume zugunsten von Gewaltopfern ausgenutzt werden, wird das im Sinne einer humanen Praxis sehr hilfreich sein.

Die Arbeit der Opferberatungsprojekte wird unmittelbar durch die Förderung von Civitas ermöglicht. Wie beurteilen Sie die Abhängigkeit der Fortführung eines solchen Programms gegen Rechtsextremismus vom Ausgang der Bundestagswahlen?

Da bin ich vorsichtig. Ich erinnere nur daran, dass eine der ersten Entscheidungen in Sachsen-Anhalt nach dem Regierungswechsel die Einstellung der öffentlichen Förderung der wichtigsten Initiativen gegen Rechtsextremismus in diesem Bundesland war.

Können antirassistische Initiativen und Projekte gegen Rechts weiterhin auf Ihre Unterstützung zählen?

Ja.

Nächster Artikel: Regionale Opferberatungsprojekte

Dossier #6: Die Kampagne von agOra -- der Arbeitsgemeinschaft der Beratungsprojekte für Opfer rassistischer, rechtsextremistischer und antisemitischer Gewalt -- setzt sich für ein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht von Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten ein, die Opfer rassistisch motivierter Gewalt wurden.

  1. Bleiberecht für Opfer rassistischer Gewalt
  2. Die Kampagne
  3. »Rechtsextremismus ist Konjunkturthema«
  4. Die Opfer in den Blickpunkt rücken
    (Opferperspektive e.V.)
  5. Opferberatungsstelle ABAD
    (Friedrich C. Burschel und Rahel Krückels)
  6. Interview mit Bundestagspräsident Thierse
  7. Regionale Opferberatungsprojekte
  8. Links zum Thema