Die »Generation Golfkrieg« als Medienphänomen – soziologische Betrachtung des Phänomens der (Jugend-)Protestkultur

»Die Schüler in der Anti-Kriegsbewegung – und was davon bleiben wird«
Unter diesem Titel veröffentlichte Dieter Rucht, Professor für Soziologie am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin und Leiter der Arbeitsgruppe »Politische Öffentlichkeit und Mobilisierung«, im März 2003 eine Studie zur Teilnahme von Schülerinnen und Schülern an den Protesten gegen den Irak-Krieg.

Bereits seit mehreren Jahren erforscht Rucht das Demonstrationsverhalten und die Organisierung politischer Öffentlichkeit, seit den 68ern gehören jugendliche Protestbewegungen zum politischen Alltag in der Bundesrepublik. Dass jedoch gerade der Krieg im Irak eine derartige Massenbewegung auslöste, war dann selbst für die Beteiligten überraschend. Die Frage, die besonders die Medien beschäftigte, war, warum sich so viele Schülerinnen und Schüler an den Demonstrationen beteiligten. Der Spiegel (13/03) mit seinem Artikel über die »Generation Golfkrieg« vom 24. März 2003(1) beeinflusste die Diskussion, und die Medien waren voll mit Bildern von spontanen Schülerdemos und Schulstreiks.

Eine repräsentative Umfrage von polis im Auftrag der Deutschen Presseagentur hatte Mitte März ergeben, dass 34% der 14-19-Jährigen sich an Demonstrationen und Protestaktionen gegen den Irak-Krieg beteiligten – während der Anteil der Protestierenden bei der Gesamtbevölkerung bei nur 15% lag.

Am weltweiten Aktionstag gegen den Irak-Krieg am 15. Februar fand in Berlin eine Großdemonstration mit mehreren hunderttausend TeilnehmerInnen statt. Sie bildete die Grundlage für die Befragung von Prof. Rucht. Fast 800 ausgewertete Fragebogen gaben Aufschluss über die soziale Zusammensetzung und die politischen Beweggründe der FriedensdemonstrantInnen.
Dabei ergab sich u.a., dass sich nach wie vor der »Standard-Typ« eines Demonstrierenden in der Überzahl befindet: er/sie ist hoch gebildet, politisch auch in anderen Zusammenhängen aktiv und politisch links stehend.(2)

(1) Online-Version im kostenpflichtigen Spiegel-Archiv
(2) Siehe Interview Ruchts in der Berliner Zeitung vom 24.3.03

In seiner Studie verweist Rucht darauf, dass gerade die jüngeren Generationen besonders protestaktiv sind. Bisher waren die StudentInnen die aktionsfreudigsten, erst mit den Antikriegsprotesten diesen Jahres traten auch die SchülerInnen massiv in Erscheinung. Mangels diesbezüglicher Untersuchungen stellt Rucht einige Vermutungen über die Hintergründe der starken Präsenz der SchülerInnen auf.

»Ein erster und wichtiger Faktor ist die im frühen Jugendalter besonders ausgeprägte Empfindlichkeit für Widersprüche zwischen hehren Idealen und einer davon weit entfernten Wirklichkeit«, schreibt Rucht. Gerade SchülerInnen reagierten bereits auf unscheinbare Anzeichen vermeintlicher Ungerechtigkeit und empörten sich deshalb umso mehr über »einen Politiker wie George W. Bush, der im Namen Gottes und demokratischer Werte einen Angriffskrieg zur ’Befreiung’ eines Volkes beginnt, obgleich damit internationales Völkerrecht flagrant verletzt, die Mehrheit der Staatengemeinschaft missachtet wird und zudem keine unmittelbar drohende Gefahr vorliegt.« Zudem dienten die Demonstrationen und Protestkundgebungen der psychischen Entlastung der Jugendlichen, die sich mehrheitlich übrigens durchaus darüber im klaren sind, dass ihre Aktionen den aktuellen Kriegsverlauf nicht beeinflussen können.

Einen zweiten wichtigen Faktor sieht Rucht in der politischen Sozialisation der Schülergeneration. Die Proteste gegen Atomkraftwerke und umweltschädigende Bauvorhaben, gegen die Nachrüstung usw. – die auf lebensweltliche Probleme zielende Protestbereitschaft der Eltern ist den Jugendlichen ein bekanntes Verhaltens- und Reaktionsschema.

Daraus ergebe sich drittens zwangsläufig ein verbreitetes »Unbehagen gegenüber den etablierten Formen politischer Interessenvertretung in Gestalt hierarchischer Verbände und Parteien«. Entgegen der weitverbreiteten Annahme von der »Politikverdrossenheit« der Jugend, artikulieren sich die Jugendlichen mit spontanen, kreativen Aktionen, die auf die Informalität ihrer eigenen sozialen Netzwerke bauen.

Natürlich bieten die Demonstrationen und Aktionen – viertens – auch eine willkommene Abwechslung zum Schulalltag und gerade die Regelverletzungen (die sich zum einen auf die Aktionen, wie Sitzblockaden, beziehen, zum anderen aber auch Schuleinträge wegen Schwänzen des Unterrichts oder der Beteiligung an Schulstreiks umfassen) werden oft als Auszeichnung empfunden. Viele der SchülerInnen gaben auf Nachfrage zu Protokoll, dass die derzeitigen Aktionen einfach »Spaß machen«.

Und fünftens ist gerade das enorme Interesse der Presse und der Weltöffentlichkeit eine Bestätigung, die nicht jeder Jugendprotestkultur zuteil wurde. Die Medienaufmerksamkeit trug entscheidend zur Motivation der Jugendlichen bei. Öffentliche Beachtung und Anerkennung, ausschwärmende Fotografen und Filmteams unterstreichen die Relevanz der Ereignisse. Das eigene Engagement lässt sich »in der Lokalzeitung oder gar in der Tagesschau nachvollziehen, so dass man sich seiner eigenen Bedeutung vergewissern kann«.

Bereits im März sagte Rucht voraus, was letztlich auch eingetreten ist. Die Massenproteste hingen vom Verlauf des Krieges ab, auf die Dauer kam es zu Ermüdungserscheinungen und auch die Medienkarawane zog weiter.

Die Vermarktung des Friedens von Viva bis zur »pace«-Fahne ließ Rucht zwar außer Acht, die Einschätzung der politischen »Flüchtigkeit« des Engagements von der Mehrzahl der jugendlichen Protestierenden wird auch durch unsere Interviews mit den SchülerInnen-Initiativen bestätigt. Eine langfristige Politisierung der Jugend bezweifelt nicht nur der Sozialforscher Dieter Rucht. Lediglich bei einer Minderheit der Jugendlichen werden Langzeiteffekte bleiben. »Geprägt durch die Erfahrung dieses Kriegs und seiner Hintergründe, geprägt auch durch die Erfahrung der Relativität von Medienperspektiven, werden diese Jugendlichen ihre politische Kritik weitertreiben. Damit bilden sie ein erhebliches Potenzial für eine politische Mobilisierung in thematisch verwandten Protestfeldern, nicht zuletzt der Globalisierungskritik.«

Damit liegt auf der Hand, dass von dieser Protestbewegung nur etwas bleibt, wenn sich Organisationszusammenhänge bilden konnten und neue Aktionsfelder gefunden werden. Auch wenn die Situation im Irak noch immer weit entfernt von der versprochenen Demokratie ist, hat dieses Thema für die Massenprotestierenden des Frühjahrs offensichtlich keine Relevanz und Mobilisierungskraft mehr. Die Friedensbewegung ist wieder auf ihren alten Kern zusammengeschrumpft und ob das Potential der durch diesen Krieg sensibilisierten Jugendlichen wirklich groß ist, wird sich zeigen.

(Dieter Rucht, Die Schüler in der Anti-Kriegsbewegung – und was davon bleiben wird(3), unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 2003)

Pressereaktionen auf die Studie:

Artikel über die SchülerInnenproteste und das Medienphänomen:

Artikel im Spiegel-Archiv sind üblicherweise kostenpflichtig.

Literatur:

  • Baacke, Dieter, Jugend und Subkulturen. Darstellung und Deutung, Weinheim/München 3. Aufl. 1999.
  • Roland Roth/ Dieter Rucht (Hg.), Jugendkulturen, Politik und Protest. Vom Widerstand zum Kommerz?, Leverkusen 1999.

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(3) Als PDF-Datei auf dem Server des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung Berlin