Theorie und Praxis interkultureller Bildungsarbeit

Von Niels Brüggen

Buchrezension: Wolfram Stender; Rohde, Georg; Weber, Thomas (Hg.): Interkulturelle und antirassistische Bildungsarbeit. Projekterfahrungen und theoretische Beiträge. Brandes & Apsel Verlag: Frankfurt/Main 2003.

Aus einer Tagung zu Qualitätskriterien in der interkulturellen und antirassistischen Bildungsarbeit im Herbst 2002 ist dieser Sammelband entstanden. Er setzt sich in einem ersten Teil aus den dort gehaltenen Vorträgen und in einem zweiten Teil aus Praxisberichten aus Sachsen-Anhalt zusammen. Wie im Titel der Tagung versprochen (»Perspektiven und Grenzen interkultureller und antirassistischer Pädagogik«), kommen in den verschiedenen Beiträgen unterschiedliche Perspektiven – teils eher in einer interkulturellen, teils in antirassistischer Tradition stehend – zu Wort. So werden die Grenzen, aber auch gemeinsame oder über die Grenzen hinausweisende Ansätze angesprochen.

Die Praxisbeiträge berichten von den spezifischen Bedingungen antirassistischer und interkultureller Bildungsarbeit in Sachsen-Anhalt, die in mehreren Aspekten ein simples Übertragen von anderenorts entwickelten Ansätzen nicht zulassen. Darüber hinaus werden aber auch die in den jeweiligen Projekten gewählten Ansätze und gelegten Schwerpunkte der Arbeit vorgestellt, was bei den Lesenden zu einem spannungsreichen Dialog von Theorie und Praxis führen kann.

Zur Vorstellung des Bandes soll solch ein Dialog anhand von einzelnen, ausgewählten Beiträgen angerissen werden. Die Auswahl der Artikel sowohl aus dem Theorieteil als auch aus dem Praxisteil, orientiert sich dabei lediglich an einem thematischen Faden und soll keine Aussage über die nicht angesprochenen Beiträge implizieren. Als thematischer Leitfaden soll dabei das Spannungsfeld zwischen antirassistischen und interkulturellen Ansätzen dienen.

Ein Blick in die theoretischen Arbeiten

Den Theorieteil des Bandes (Kritik antirassistischer und interkultureller Pädagogik) führt Rudolf Leiprecht mit seinem Beitrag Antirassistische Ansätze in (sozial-) pädagogischen Arbeitsfeldern: Fallstricke, Möglichkeiten und Herausforderungen ein. Als Einstieg dient eine knappe Einführung in die Debatte zu antirassistischen Konzepten im Handlungsfeld Bildung und Sozialer Arbeit und die Darstellung von drei Besonderheiten dieser Debatte in Deutschland. Diese Besonderheiten können knapp mit den Stichworten antirassistische vs. interkulturelle Konzepte; Rechtsextremismus vs. Alltagsrassismus und der Begriffsverwendung von Rassismus vs. anderer Begriffe (Fremdenfeindlichkeit, Ausländerfeindlichkeit, Fremdenhass usw.) umrissen werden. Aus dieser Einführung stellt Leiprecht 16 Ziele interkultureller und antirassistischer Konzepte zusammen, die in der Zusammenführung weder auf individuelle Erfahrungen begrenzt bleiben noch strukturelle und institutionelle Bedingungen ausblenden. Für die praktische Arbeit kann die Zusammenstellung von Fallstricken antirassistischer Konzepte in pädagogischen Arbeitsbereichen ein hilfreicher Anlass sein, einem der zehn von Leiprecht formulierten Merkpunkte gerecht zu werden: der kontinuierlichen Selbstreflexion. Somit bieten insbesondere die dargelegten Fallstricke und Merkpunkte hilfreiche Impulse von der Theorie hin in die praktische Arbeit.

Die Heterogenität mit der das Thema theoretisch betrachtet wird, zeigt sich im darauf folgenden Beitrag von Albert Scherr. In »Interkulturelle Pädagogik – (k)eine angemessene Reaktion auf Rechtsextremismus?« fragt Scherr nach der Relevanz und den Grenzen interkultureller Pädagogik als Strategie gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus. Mit Fremdenfeindlichkeit entscheidet sich Scherr gegen den bspw. von Leiprecht bevorzugten Begriff Rassismus, der nach Scherr mit der Schwäche behaftet sei, zu stark mit einem biologischen Rassismus in Verbindung zu stehen. Dahingegen betont der Begriff Fremdenfeindlichkeit die zugrunde liegenden Fremdheitskonstruktionen, die allerdings auch an biologistische Rassenkonstruktionen anschließen können. Fremdenfeindlichkeit und Rechtextremismus werden als »Artikulationsformen gesellschaftsstrukturell bedingter Verunsicherungen« analysiert und können nicht hinreichend als Folge der Wahrnehmung kultureller Unterschiede interpretiert werden. Dementsprechend seien auch Ansätze innerhalb der interkulturellen Pädagogik kritikbedürftig, die von einem naiven Interkulturalismus ausgingen. Naiv sei dabei unter anderem, wenn »kulturelle Unterschiede nicht im Zusammenhang mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen« thematisiert würden oder »Kulturen als in sich geschlossene und in sich widerspruchsfreie Gebilde« unterstellt würden. Somit wird deutlich, dass trotz unterschiedlicher Begrifflichkeiten bei Scherr und zuvor bei Leiprecht die Impulse aus dem Theorieteil des Sammelbandes auf die Beachtung der gesellschaftsstrukturellen Aspekte von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus deuten.

Die »Schwierigkeit, die Dinge zusammenzudenken« spricht auch Annita Kapalka in ihrem Beitrag »Stolpersteine und Edelsteine in der interkulturellen und antirassistischen Bildungsarbeit« an. Zusammenzudenken sei das Spannungsverhältnis von Individuen und Gesellschaft. Wo interkulturelle und antirassistische Bildungsarbeit an Vorurteilen ansetze und sich Einstellungsänderungen zum Ziel nehme, würde oftmals die Bedeutung »struktureller Diskriminierung« ausgeblendet. Und diese Ausblendung liege mit in den Programmen und Methoden vieler Antirassismus-Trainings begründet, die implizit ein Phasenmodell (»erst die Menschen, dann die Strukturen verändern«) vorgeben. Aber »Einstellungen der Subjekte sind nicht zu trennen von den strukturellen Verhältnissen, in denen sie leben und handeln« und unter dieser Prämisse müssen Ziele, Methoden und die dahinter stehenden Theoriebezüge überprüft und reflektiert werden. Mit einem reichen Erfahrungsschatz aus Reflexionsworkshops mit TrainerInnen zeigt Kapalka auf, wie Programme und Methoden mit ihren (impliziten) Zielen im Wege stehen können und zugleich wie »Zusammendenken« methodisch umgesetzt werden kann. Somit könnte durchaus das Ziel »strukturelle Veränderung« anstatt Veränderung von Einstellungen an die erste Stelle antirassistischer Bildungsarbeit rücken. Insbesondere die (impliziten) Stolpersteine, die Kapalka aufspürte, können helfen die eigene Praxis zu überdenken. Bspw. dass dort, wo die zugrunde liegende Theorie nicht explizit ist und somit Gegenstand der Kritik werden kann, sie sich den »dialogischen und demokratischen Formen des Lernens« gleichermaßen entzieht und damit das pädagogische Konzept selbst unterminiert.

Darstellung praktischer Aktivitäten

So bleibt vorzustellen, in welcher Form das im Theorieteil kritisch betrachtete Problemfeld im zweiten Teil des Buches (Praxis antirassistischer und interkultureller Pädagogik) wieder zu finden ist.

Die Service- und Informationsstelle zur Qualifizierung von Multiplikatoren in Schule, Ausbildung und Beruf des Magdeburger Miteinander – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt e.V. wird dabei unter der Fragestellung Wie kann Fortbildung in Sachsen-Anhalt als »Empowerment« funktionieren? dargestellt. Als Einstieg der Projektdarstellung werden die sozioökonomischen und soziopolitischen Rahmenbedingungen antirassistischer und interkultureller Pädagogik in Sachsen-Anhalt beschrieben. Angesichts dramatischer Arbeitslosigkeit und Wegzug als »folgenschwerster Form der Migration« scheine es in Sachsen-Anhalt eine »Fremdenfeindlichkeit ohne Fremde« zu geben. Die Aufmerksamkeit müsse somit auf den herrschenden Alltagsrassismus gelenkt werden und zugleich müsse die Bildungsarbeit zum Ziel haben, die gesellschaftliche Stellung von MigrantInnen zu verbessern. Im Erfahrungsbericht der Fortbildungspraxis des innerhalb des Xenos-Programms (EU) geförderten Projektes können deutlich die institutionellen Strukturen als Hindernis in antirassistischer Bildungsarbeit ausgemacht werden, wenn bspw. leitendes Personal die Probleme mit Rechtextremismus, Rassismus, Homophobie etc. im eigenen Haus herunterspielt oder über individuelle Handlungsanweisungen hinausgehende Lösungsansätze von den PädagogInnen als nicht an der eigenen Institution durchsetzbar abgetan werden. Zugleich weist der Bericht auch über die kritische Darstellung des Problems hinaus, indem gezeigt wird, dass durch Kontinuität der Fortbildung und ein so entstehendes Vertrauensverhältnis Skepsis und Abwehrhaltungen gegenüber neuartiger Vorschläge abgebaut werden können. Anhand der dargestellten konzeptionellen Grundsätze für die Fortbildungsarbeit können Arbeitsweise und Probleme für die Reflexion der eigenen Arbeit nachvollzogen werden.

Bei dem Projekt Interkulturelle und antirassistische Projektkoordination (IKaP) werden als Referenten für Workshops vorwiegend MigrantInnen engagiert, was über den persönlichen Kontakt dazu führen soll, die interkulturellen Sensibilisierungschancen angesichts der wenigen MigrantInnen in Sachsen-Anhalt zu erhöhen. Aus Sicht der bereits vorgestellten kritischen Theoriebeiträge scheint sich das Projekt dabei in den Fallstricken interkultureller Ansätze zu verfangen und eher bereits vorhandene Stereotype über die »Fremden« zu bestätigen als sie aufzulösen oder beim Verändern von Einstellungen strukturelle Diskriminierungszusammenhänge auszublenden. Ausdrücklich werden Obst- sowie Trommelworkshop aber nur als ein Baustein eines Angebotes vorgestellt, mit welchem zum Beispiel erfolgreich eine Gesprächsatmosphäre geschaffen werden kann. Die Frage allerdings, mit welchen methodischen Bausteinen an den gesellschaftsstrukturellen Dimensionen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gearbeitet werden kann, bleibt in diesem Beitrag unbeantwortet.

Resümee

In dem Sammelband Interkulturelle und antirassistische Bildungsarbeit. Projekterfahrungen und theoretische Beiträge ist es gelungen, eine Vielfalt von theoretischen wie auch praktischen Ansätzen nebeneinander zu stellen. Dabei bleibt es dem Leser überlassen, Bezüge zwischen den einzelnen Beiträgen herzustellen und die mehr oder weniger explizit aneinander geübte Kritik herauszuspüren. Ob dies gemacht wird oder nicht, die einzelnen Beiträge bieten in jedem Falle sowohl nützliche Impulse, um eigene Projekte und Ansätze zu überdenken, als auch wieder für die »Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein« (Kapalka) sensibilisiert zu werden.

In der hier gewählten Form der Darstellung wurden nur knapp einzelne Aspekte angesprochen, die in dem vorliegenden Sammelband behandelt werden. Doch sowohl im Theorieteil, als auch im Praxisteil, finden sich weitere Artikel und damit weitere lohnende Impulse zum Lesen.

Wolfram Stender; Rohde, Georg; Weber, Thomas (Hg.): Interkulturelle und antirassistische Bildungsarbeit. Projekterfahrungen und theoretische Beiträge. Brandes & Apsel Verlag: Frankfurt/Main 2003.
ISBN: 3-86099-317-8 Preisinfo: 17,90 Euro

Folgende Beiträge sind im Buch enthalten:

  • Rudolf Leiprecht: Antirassistische Ansätze in (Sozial-)pädagogischen Arbeitsfeldern.
  • Albert Scherr: Interkulturelle Pädagogik – (k)eine angemessene Reaktion auf Rechtsextremismus.
  • Annita Kalpaka: Stolpersteine und Edelsteine in der interkulturellen und antirassistischen Bildungsarbeit.
  • Wolfram Stender: Erziehung zur Toleranz? Probleme antirassistischer Pädagogik in Deutschland.
  • Susanne Czuba-Konrad: Migrationsliteratur als Medium in der antirassistischen Arbeit.
  • Armin Steil, Eva-Maria Kenngott: Fremdheit als Problem moralischen Lernens.
  • Bernd Hayen, Karsten Heller, Manuela Reichle und Georg Rohde: Wie kann Fortbildung in Sachsen-Anhalt als Empowerment funktionieren?
  • Karamba Diaby: Interkulturelle und antirassistische Pädagogik in Sachsen-Anhalt.
  • Florian Schulze: Interkulturalität per Döner?
  • Nancy Sosath, Torsten Sowada, Steffen Kulow: Für Demokratie Courage zeigen!
  • Till Baumann, Katharina Lammers, Katrin Wolf: Theater im Kontext antirassistischer Pädagogik.
  • Kerstin Schumann: Rechtsextremismus ein Thema für Mädchen?
  • Hendrik Möser und René Lampe: Rechtsextremismus und Männlichkeit.

Eine weitere Rezension des Buches von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, Universität Hildesheim

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