Europa: von der Wirtschaftsgemeinschaft zum Nationalstaat?

von Katharina Hamann

Am 29. Oktober 2004 wurde der Vertrag über eine Verfassung für Europa von den Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Mitgliedsstaaten und der drei Beitrittskandidaten in Rom unterschrieben. Gibt es jetzt also eine einheitliche europäische Verfassung? Nein, in dem feierlichen Akt ging es in erster Linie darum, sich nach mehrjährigen Diskussionen und auch Streitigkeiten auf einen Verfassungstext zu einigen, der nun noch von den einzelnen Mitgliedsstaaten angenommen, ratifiziert, werden muss. Der europäischen Verfassung steht noch ein weiter Weg bevor, in einigen Ländern wird per Volksentscheid, so genannte Referenden, entschieden. Ein Prozess, der einige Jahre dauern kann.

Das Dossier # 12 befasst sich mit dem Zustandekommen der EU Verfassung und den Diskussionen, die sie ausgelöst hat sowie mit den Vorstellungen von einer europäischen Identität und was diese bestimmen könnte.

  1. EU-Verfassung und europäische Identität
  2. Von der Wirtschaftsgemeinschaft zum Nationalstaat?
    (Katharina Hamann)
  3. »Besser die als keine«
    (Sylvia-Yvonne Kaufmann)
  4. Demokratisierung der EU?
    (Norman Paech)
  5. Wofür dient eine europäische Identität?
    (Dr. Jochen Roose)
  6. Europas Suche nach einer kollektiven Identität
    (Anna Pollmann)
  7. Gleichstellung der Frauen im Verfassungsentwurf
    (Mercedes Mateo Diaz, Susan Millns)
  8. Gegen diesen EU-Verfassungsentwurf
    (Tobias Pflüger, MdEP)
  9. Die Militarisierung Europas
    (Redaktion Informationen zur Deutschen Außenpolitik)
  10. Flüchtlingsabwehr und Lagerpläne
    (Cornelia Gunßer, Flüchtlingsrat Hamburg)
  11. Fortress Eastern Europe
    (Laure Akai, Bez Granic (polnische Organisation »Ohne Grenzen«))
  12. Einmal Novi Sad und zurück
    (Suse Lang, D-A-S-H europe)
  13. Weiterführende Materialien

Der britische Premierminister Tony Blair stellte die Entscheidung Großbritanniens für oder gegen den Verfassungsentwurf für das Jahr 2006 in Aussicht. In anderen Ländern wird die Entscheidung im Parlament gefällt, was allerdings nicht notwendigerweise für eine schnelle Entscheidung spricht. Erst, wenn alle Staaten den Vertrag ratifiziert haben, tritt die Verfassung in Kraft, frühestens, so hat es die EU selber festgelegt, wird dies zum 1. November 2006 sein.(1) Interessanter als die bürokratischen Details der Ratifizierung ist die Frage: Warum gibt sich die Europäische Union eine Verfassung?(2)

Ursprünglich standen im Mittelpunkt der transnationalen Zusammenarbeit wirtschaftliche Interessen. 1950 schlug der französische Außenminister Robert Schuman die Integration der westeuropäischen Kohle- und Stahlindustrie vor. 1951 gründeten Belgien, Deutschland, Luxemburg, Frankreich, Italien und die Niederlande die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die so genannte Montanunion. Sie bildet den Ursprung der heutigen EU. Die gemeinsame Politik in diesem einzelnen Bereich wurde als so ergiebig angesehen, dass Zusammenschlüsse in anderen Bereichen folgten. 1957 unterzeichneten die EGKS-Mitgliedsstaaten den Vertrag von Rom und gründeten damit die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Ziel war die Beseitigung von Handelshemmnissen und die Bildung eines »Gemeinsamen Marktes«. Der Wunsch nach einem europäischen Binnenmarkt, in dem frei ohne Zoll- und andere Beschränkungen Waren gehandelt werden können, wurde zum zentralen Bestreben der europäischen Gemeinschaft. Immer mehr Staaten sahen einen Vorteil darin, ihre Interessen in einem überstaatlichen Bündnis zu vertreten und immer mehr Bereiche wurden in diese Diskussionen eingebunden. 1967 wurden die Organe der drei Europäischen Gemeinschaften vereinigt und die Gründung der gemeinsamen Kommission, des Ministerrates sowie des Europäischen Parlamentes beschlossen.

(1) Eine Übersicht zum Stand der Ratifizierungen bietet die EU momentan lediglich auf französisch und englisch an.
(2) Einen sehr guten und ausführlichen Überblick über die Geschichte der EU und die Anfänge der Verfassungsdebatte vermittelt Andreas Wehr in seinem Buch: Europa ohne Demokratie? Die europäische Verfassungsdebatte. Bilanz, Kritik und Alternativen. Erschienen im Papy Rossa Verlag, 2004, 12,90 EUR. Andreas Wehr hat als Mitarbeiter der »Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke im Europäischen Parlament« die Arbeit des Konvents zur Zukunft Europas zur Vorbereitung einer europäischen Verfassung begleitet.

Die Anfangsjahre zeigen bereits die Entwicklung, die sich bis heute fortsetzt: Immer mehr wurde und wird die Europäische Union, wie der Zusammenschluss seit dem Vertrag von Maastricht 1992 heißt, zu einer Einheit, in der alle politischen Bereiche verhandelt werden. Heute gibt es keine Gebiete mehr, die aus der EU ausgenommen sind, beispielsweise existieren Einigungen in der Verteidigungs- und Außenpolitik, im Bereich »Justiz und Inneres« und in der Kultur- oder Agrarpolitik. Mit einem Mehr an gemeinsamer Politik war auch eine Verlagerung von politischen Entscheidungen von der staatlichen auf die transnationale Ebene verbunden. Die Abgabe von Befugnissen und Macht musste immer auch den Staatsangehörigen erklärt werden, ebenso wie mögliche Veränderungen eigener Gesetze aufgrund von neuen EU-Regelungen. In der Politikwissenschaft spricht man auch von einem Demokratie- bzw. Legitimationsdefizit, wenn Entscheidungen nicht in den Gremien getroffen werden, für die Wählerinnen und Wähler Abgeordnete entsenden, bzw. wenn sie vermeintlich entgegen nationaler Interessen getroffen werden. Je mehr Europa sich auf dem Weg des Nationalisierungsprozesses befand, das heißt je mehr Elemente, die zu einem Nationalstaat gehören, auf europäischer Ebene gefunden werden, desto dringlicher war es erforderlich, den Bürgerinnen und Bürgern die Politik nahe zu bringen, damit diese sie mittragen. Hierfür wurde bereits in den Anfangsjahren der EU die Bildung einer europäischen Identität gefördert, dies geschah z.B. durch europäische Kulturfestivals, die Schreibung europäischer Geschichte, die Förderung von intereuropäischem Jugendaustausch etc. Mit Erfolg, der europäische Gedanke ist bei vielen Menschen bereits so verinnerlicht, dass er als natürlich angesehen wird. Dass nach dem Zweiten Weltkrieg eine gemeinsame Politik der Alliierten mit Deutschland keineswegs selbstverständlich war, und die Unterschiede, gerade auch der Geschichte, im Vordergrund standen, ist sechzig Jahre nach Kriegsende fast vergessen.

Mit einer gemeinsamen Verfassung wird der politischen Richtung der EU Rechnung getragen, in ihr werden aber nicht nur neue Instanzen, wie ein europäischer Außenminister, geschaffen, sondern auch Koordinaten einer europäischen Identität festgeschrieben. Die intensive Diskussion um das Festschreiben christlicher Werte zeigt, dass es noch keine absolute Einigkeit darüber gibt, was diese Identität ausmacht.

Katharina Hamann ist Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Medienpädagogik und Weiterbildung der Universität Leipzig.

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