Wofür dient eine europäische Identität?

Von Dr. Jochen Roose

Identität ist ein paradoxes Phänomen. Einerseits gibt die Identität an, wer wir sind. Wir haben eine klare Vorstellung von dem, was uns ausmacht, was unsere Eigenschaften sind usw. Unsere Identität ist uns gegeben, sie ist da und sie ist unverrückbar. Auf der anderen Seite können die Sozialwissenschaften beobachten, wie Identität gemacht wird. Während der Pubertät von Menschen lässt sich die Entstehung einer Identität gut beobachten, aber es kann auch zu einem grundlegenden Wandel von Identität kommen, etwa bei dem Eintritt in eine andere Religion oder Sekte oder als Reaktion auf Lebenskrisen. Was auf den ersten Blick als unverrückbare, gegebene Identität erscheint, ist bei näherem Hinsehen keineswegs so eindeutig.

Ähnlich verhält es sich mit Nationalstaaten. Die Identifikation als Deutscher, als Brite oder als Amerikaner ist bei den jeweiligen Menschen meist sehr stark. Sie wird als selbstverständlich gegeben hingenommen und mit Eigenschaften verbunden. Wir haben oft eine Vorstellung davon, wie Deutsche sind, was es ausmacht, Deutscher zu sein – positiv oder negativ. Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt uns allerdings auch, dass es diese nationalen Identitäten keineswegs immer gab. Die Nationalstaaten, wie wir sie heute kennen und denen wir uns heute so selbstverständlich zurechnen, sind selbst erst vor zwei-, dreihundert Jahren entstanden. Ihnen liegt ein langer Prozess der Staatswerdung zugrunde, in dem die Menschen erst überzeugt werden mussten, dass sie »Deutsche« oder »Franzosen« sind. Auch die Identifikation mit Nationalstaaten ist nicht so selbstverständlich, wie sie uns heute erscheint. Die Europäische Union (EU) steht heute vor der Aufgabe, die Menschen an sie zu binden, eine Europäische Identität zu schaffen.

Bislang war die EU bei dem Versuch, eine Europäische Identität zu schaffen oder zu befördern, nur bedingt erfolgreich. Zwar ist die Flagge der EU mittlerweile bekannt (81% der Europäer kennen sie), weniger allerdings etwa der Europatag (9. Mai, von dessen Existenz nur 34% wissen) oder die Hymne (Beethovens »Ode an die Freude«, von der nur 25% wissen, Quelle hier und im Folgenden: Eurobarometer 61, März 2004). Auf die Frage, wie sich die Befragten in Zukunft sehen, antworteten nur 4%, sie würden sich ausschließlich als Europäer sehen. Weitere 6 % verstehen sich als Europäer und in zweiter Linie als Bürger ihres jeweiligen Staates. 46% stellen ihre jeweilige Nationalität an erster Stelle und an zweiter Europa. Doch 41 % sehen sich ausschließlich als Bürger ihres jeweiligen Staates und nicht als Europäer. Die Zahlen für die Deutschen entsprechen praktisch dem europäischen Durchschnitt (6% Europäer, 8% Europäer und Deutsche, 46% Deutsche und Europäer, 38 % Deutsche). Einen Trend hin zu einer größeren Zahl von Menschen, die sich ausschließlich oder zumindest zusätzlich als Europäer verstehen, lässt sich auch über einen längeren Beobachtungszeitraum von 30 Jahren nicht erkennen.

In dem Verfassungsentwurf der EU finden sich eine Reihe von Versuchen, eine Basis für eine Europäische Identität zu schaffen und ihre Entstehung zu befördern. Zunächst verweist die Präambel des Verfassungsentwurfs auf Ähnlichkeiten der Europäer. Die Autorinnen und Autoren der Verfassung haben sich in ihrem Verständnis, was Europa ausmacht, auf die Kultur und die Werte Europas gestützt. Sie sprechen von dem »kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas«. Damit wählen die Autoren eine Version der Identitätsbegründung, nämlich die historisch gewachsene Ähnlichkeit. Verschiedene Historiker haben versucht aufzuzeigen, wie ähnlich sich die Menschen in Europa sind und tatsächlich lassen sich erhebliche Ähnlichkeiten finden, etwa in der Entstehung von Städten, Wirtschaftsform oder Familienform. Auf diese Weise die Identität Europas zu bestimmen, heißt aber auch, unähnliche Gesellschaften und Menschen auszuschließen.

Besonders deutlich wird diese Beschränkung bei der Religion. Mit der Formulierung »religiöses Erbe« bleibt der Bezug auf Religion vage. Der Verfassungskonvent und die Öffentlichkeit haben intensiv diskutiert, ob ein Bezug auf den christlichen oder einen allgemeinen Gott in die Europäische Verfassung soll. Die christliche Religion in ihren verschiedenen Ausformungen wurde als Fundament der europäischen Werte, aber auch als einigendes Band Europas vorgeschlagen.
Nicht nur in der Beschreibung der Ähnlichkeit Europas ist der Verweis auf den christlichen Glauben zu finden. Auch beim Verweis auf einen weiteren Ansatz zur Bestimmung von Identität, nämlich die Bestimmung von Identität über Abgrenzung, ist der Blick auf den christlichen Glauben interessant. Identität lässt sich nicht nur dadurch bestimmen, was man ist, sondern auch dadurch, was man nicht ist. Betrachtet man die Abgrenzungskämpfe in Europas Geschichte, so stechen zwar zunächst die Kriege zwischen den Nationalstaaten, also gewissermaßen die europäischen Bürgerkriege, ins Auge. Weiter zurück in der Geschichte gab es allerdings auch zahlreiche Kriege, die von Gesamteuropa gegen den Islam geführt wurden, so die Kreuzzüge und die Kriege der Christen gegen die einfallenden Türken.

Das Problem einer solchen Definition der Identität von Europa wird deutlich: Eine Beschreibung der Identität Europas als christlich schließt die Andersgläubigen aus, die Türkei als Staat genauso wie andere Menschen, die in europäischen Ländern leben und muslimischen, jüdischen oder anderen Glaubens sind. Kann es wirklich Ziel der EU sein, durch kategorische Ausgrenzung der beitrittswilligen Türken und »Fremdenfeindlichkeit« zu einer Identität zu finden? Die Präambel der Verfassung hat sich mit der weichen Formulierung vom »religiösen Erbe« nicht festgelegt, muss dadurch aber auch die möglicherweise einheitsstiftende Wirkung der christlichen Religion aufgeben.

Ein weiterer Ansatz, um eine Identität zu stützen, geht von einer Bindung an Staatsform und Verfassung aus. Für die Bundesrepublik und nun auch für die EU hat Jürgen Habermas dieses Konzept des Verfassungspatriotismus prominent vertreten. Eine demokratische Staatsform ist Beitrittsbedingung in der EU. Die Präambel verweist darauf, indem sie auf »Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit« verweist. In direkter Verbindung mit dieser Vorstellung steht die Einführung einer europäischen Staatsbürgerschaft, die in den bisher geltenden Verträgen als Ziel aufgenommen wurde und in dem Verfassungsentwurf festgeschrieben ist (Artikel I-10). Sie »tritt zur nationalen Staatsangehörigkeit hinzu« und wird durch den Europapass symbolisiert.

Nicht zuletzt die Verfassung selbst ist eine Möglichkeit, die Europäer an etwas Gemeinsames zu binden und einen Verfassungspatriotismus zu begründen. Der Beginn der Präambel des Verfassungsentwurfs ist hier ein programmatischer Wechsel in der Geschichte der EU. Es heißt dort: »Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, begründet diese Verfassung die Europäische Union…« Erst im Vergleich mit der Präambel der bisher geltenden Verträge wird deutlich, was sich getan hat. Dort hieß es: »Durch diesen Vertrag gründen die Hohen Vertragsparteien untereinander eine Europäische Union…« Mit dem Verfassungsentwurf haben die Bürgerinnen und Bürger Eingang gefunden in die offiziellen Verträge der EU. Es könnte ihre eigene Verfassung werden, was allerdings voraussetzt, dass die Bürger dieser Verfassung zustimmen. Im Europäischen Durchschnitt befürworten 63% der Bevölkerung die Verfassung, Dänemark ist das einzige Land mit einer größeren Ablehnung (41%) als Zustimmung (37%). Eine emotionale Bindung, ein Verfassungspatriotismus ist damit aber bei weitem noch nicht gewährleistet.

Demokratische Staatsformen brauchen die Unterstützung durch ihre Bürgerinnen und Bürger. Das gilt für Nationalstaaten wie für die EU. Die Weimarer Republik gilt als abschreckendes Beispiel für einen Fall, bei dem die Demokratie abgeschafft und durch eine grausame Diktatur ersetzt werden konnte, weil die Bürger ihre Demokratie nicht unterstützt haben. Die Identifikation mit der EU könnte also eine wichtige Garantie für ihre dauerhafte Funktionsfähigkeit sein. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die Überzeugung, die EU sei nützlich, allein nicht ausreicht, gerade wenn die Zeiten wirtschaftlich schwierig sind. Ob und in welchem Umfang und welcher Art die EU aber eine Identifikation ihrer Bürger als Europäer braucht und wie sie dies erreichen kann, ist schwer zu sagen.

Dr. Jürgen Roose arbeitet am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig.

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Literatur:

  • Habermas, Jürgen, 1994: Staatsbürgerschaft und nationale Identität. Überlegungen zur europäischen Zukunft. In: Nicole Dewandre/Jaques Lenoble (Hg.): Projekt Europa. Postnationale Identität: Grundlage für eine europäische Demokratie. Berlin: Schelzky & Jeep, S. 11-29.
  • Immerfall, Stefan/Sobisch, Andreas, 1997: Europäische Integration und europäische Identität. Die Europäische Union im Bewusstsein ihrer Bürger. Aus Politik und Zeitgeschichte, 47(B 10), S. 25-37.
  • Kaelble, Hartmut, 1987: Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880 – 1980. München: C. H. Beck.
  • Pfetsch, Frank, 1998: Die Problematik der europäischen Identität. Aus Politik und Zeitgeschichte, 48(B25/26), S. 3-9.

Nächster Artikel: Europas Suche nach einer kollektiven Identität

Das Dossier # 12 befasst sich mit dem Zustandekommen der EU Verfassung und den Diskussionen, die sie ausgelöst hat sowie mit den Vorstellungen von einer europäischen Identität und was diese bestimmen könnte.

  1. EU-Verfassung und europäische Identität
  2. Von der Wirtschaftsgemeinschaft zum Nationalstaat?
    (Katharina Hamann)
  3. »Besser die als keine«
    (Sylvia-Yvonne Kaufmann)
  4. Demokratisierung der EU?
    (Norman Paech)
  5. Wofür dient eine europäische Identität?
    (Dr. Jochen Roose)
  6. Europas Suche nach einer kollektiven Identität
    (Anna Pollmann)
  7. Gleichstellung der Frauen im Verfassungsentwurf
    (Mercedes Mateo Diaz, Susan Millns)
  8. Gegen diesen EU-Verfassungsentwurf
    (Tobias Pflüger, MdEP)
  9. Die Militarisierung Europas
    (Redaktion Informationen zur Deutschen Außenpolitik)
  10. Flüchtlingsabwehr und Lagerpläne
    (Cornelia Gunßer, Flüchtlingsrat Hamburg)
  11. Fortress Eastern Europe
    (Laure Akai, Bez Granic (polnische Organisation »Ohne Grenzen«))
  12. Einmal Novi Sad und zurück
    (Suse Lang, D-A-S-H europe)
  13. Weiterführende Materialien