Doing Europe – Europas Suche nach einer kollektiven Identität

Von Anna Pollmann

Kollektive Identität gilt als ein wichtiges Element, um den Zusammenhalt von Gemeinschaften zu garantieren. Sie wird durch Verständigung der einzelnen Menschen in dieser Gemeinschaft hergestellt und über den Prozess der ständigen Selbstvergewisserung, Mitglied dieser Gemeinschaft zu sein. Dies passiert hauptsächlich über gemeinsame Kommunikation, gemeinsame Erfahrungen und Erinnerungen. Unterstützt wird die Konstruktion einer imaginierten Gemeinschaft aber auch durch weitaus abstraktere Vorstellungen von gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Kultur.

Die Identitätsbildung dient letztlich dazu, eine Ähnlichkeit aller Mitglieder einer Gemeinschaft zu schaffen und hat damit eine befriedende und homogenisierende Funktion im Inneren dieser Gemeinschaft. Der Behauptung einer Ähnlichkeit der Mitglieder im Inneren, entspricht die Behauptung eines »Anderssein« von Menschen außerhalb, die die so genannten Codes kultureller, historischer, religiöser Zugehörigkeit angeblich nicht teilen.

Das Dossier # 12 befasst sich mit dem Zustandekommen der EU Verfassung und den Diskussionen, die sie ausgelöst hat sowie mit den Vorstellungen von einer europäischen Identität und was diese bestimmen könnte.

  1. EU-Verfassung und europäische Identität
  2. Von der Wirtschaftsgemeinschaft zum Nationalstaat?
    (Katharina Hamann)
  3. »Besser die als keine«
    (Sylvia-Yvonne Kaufmann)
  4. Demokratisierung der EU?
    (Norman Paech)
  5. Wofür dient eine europäische Identität?
    (Dr. Jochen Roose)
  6. Europas Suche nach einer kollektiven Identität
    (Anna Pollmann)
  7. Gleichstellung der Frauen im Verfassungsentwurf
    (Mercedes Mateo Diaz, Susan Millns)
  8. Gegen diesen EU-Verfassungsentwurf
    (Tobias Pflüger, MdEP)
  9. Die Militarisierung Europas
    (Redaktion Informationen zur Deutschen Außenpolitik)
  10. Flüchtlingsabwehr und Lagerpläne
    (Cornelia Gunßer, Flüchtlingsrat Hamburg)
  11. Fortress Eastern Europe
    (Laure Akai, Bez Granic (polnische Organisation »Ohne Grenzen«))
  12. Einmal Novi Sad und zurück
    (Suse Lang, D-A-S-H europe)
  13. Weiterführende Materialien

Der Fortbestand jeder, wie auch immer gearteten Gemeinschaft, ist somit vom Zugehörigkeitsgefühl ihrer Mitglieder und ihrem Glauben an bestimmte Gemeinsamkeiten abhängig und die Identitätsproblematik in politischen Gemeinschaften grundlegend für die Möglichkeit politischen Handelns.(1)

(1) s. Walkenhorst (1999), S.19

Die größten Einheiten kollektiver und territorialer Identitäten sind bisher Nationalstaaten, begonnen hat dieser Nationalisierungsprozess in Europa am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Bildung von Nationen wird in der Forschung auch »nation-building« genannt, um zu zeigen, dass diese nationalen Gemeinschaften keineswegs natürlich waren und so vorgefunden wurden, sondern erst in einem langen Prozess von Aushandlungen, der Herausbildung einer gesellschaftlichen Ordnung und der Integration der BürgerInnen in und Mobilisierung für diese politische Herrschaftsform herausgebildet wurden. Negativ begleitet war dieser Prozess von Kriegen, Vertreibungen, Feindbildkonstruktionen und Ausgrenzungen, die die Organisation in der Form einer Nation erst möglich machten.

Die nationale Identität macht das willkürliche Territorium einer Nation schließlich zur Grundlage ethnischer, kultureller, wirtschaftlicher und rechtlich-politischer Elemente von Zugehörigkeit und schreibt den BewohnerInnen dieses Territoriums entsprechende »nationale« Eigenschaften zu.(2)

(2) s. Kohli (2002), S. 113

Die Herausbildung einer kollektiven, europäischen Identität ist zur festen Zielgröße europäischer Politik geworden. Relevant für die Leitlinien europäischer Politik wurde die Identitätsthematik mit der Weiterentwicklung der europäischen Integration von einer nur wirtschaftlichen Gemeinschaft in den Anfangsjahren, zu einer politischen Gemeinschaft der integrierten Nationalstaaten, die eine zunehmende Legitimation seiner Politik durch ihre BürgerInnen erforderte. Entscheidungen, die vormals von den Nationalstaaten gefällt wurden, werden im Prozess der Integration zunehmend auf die europäische Ebene verlagert. Damit Europa als eine handlungsfähige politische Einheit auftreten kann, innen- wie außenpolitisch, bedarf es der Bereitschaft der BürgerInnen, am Integrationsprozess zu partizipieren, das politische System und die dort getroffenen Entscheidungen anzuerkennen.(3)

(3) Vgl. Marks, Hooghes (2003), S. 29

In der Diskussion um den Fortgang des Projekt Europas wird eine europäische Identität, die über eine bloße gemeinsame Interessenlage hinausgeht, als Vorraussetzung für die Entstehung einer Solidargemeinschaft und für ein befriedetes, demokratisches Europa gesehen, da eine auf eine politische Einheit gerichtete Identität innerhalb demokratischer Herrschaftsformen den stärksten soziallegitimatorischen Faktor darstellt.(4) Die Bedeutungszunahme des Identitätsthemas spiegelt die Befürchtung einer sinkenden Zustimmung zur EU wieder, welche aus den Eurobarometerumfragen der 90er Jahren herausgelesen wird, in denen nach Zugehörigkeitsgefühlen zu den territorialen Einheiten Region, Nation und Europa gefragt wird.

(4) Vgl. Nissen (2002), S. 498

Bei der Auswertung von Eurobarometerumfragen wurde festgestellt, dass eine nationale und eine europäische Identität keinesfalls in Konkurrenz zueinander stehen müssen, sondern sich vielmehr begünstigen, da sie teilweise aufeinander aufbauen oder sich ergänzen. Trotzdem sind nicht immer beide Zugehörigkeiten gleich relevant und handlungsleitend, sodass es auf der politischen Ebene oftmals zu Konflikten kommt, wenn es um nationalstaatliche Souveränitäten oder um Umverteilungen von der Nation auf Europa geht, ein gutes Beispiel hierfür sind wohl die Diskussionen um die Kosten und Nutzen der Osterweiterung.(5)

(5) s. Duchesne/Frognier (1995)

Der Prozess der zunehmenden Integration wird begleitet von der Einsicht, dass eine europäische Identität als Stütze für gemeinsame Politik notwendig ist. Grundsätzlich folgen die Initiativen einer identitätsstiftenden Politik »von oben« den Prämissen der Nationalisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts.(6)

(6) s. Walkenhorst (1998), S. 228

1973 tauchte die Forderung nach einer europäischen Identität erstmalig bei der Kopenhagener Konferenz auf, die Vorstellungen blieben jedoch recht allgemein. Zehn Jahre später mit der »Feierlichen Deklaration der EU« werden erstmals politische Maßnahmen formuliert, mit denen die Bildung einer europäischen Identität angestoßen werden sollten. Das »Bewusstsein eines gemeinsamen kulturellen Erbes« wurde hier als ein wichtiger Teil der Identitätsbildung herausgestellt. Die politischen Maßnahmen zur Schaffung einer Identität waren in den 80er Jahren zumeist mit einer gemeinsamen EG-Bildungspolitik verknüpft. Kenntnisse über die europäischen Mitgliedstaaten, über die Geschichte und Kultur Europas rückten plötzlich auf den Lehrplan.

Seit den 90er Jahren wurde die Idee einer europäischen Identität zunehmend im Zusammenhang mit außen- und sicherheitspolitischen Zielen gebraucht, in der Diskussion um eine gemeinsame Position im Irakkrieg 2003 wurde zunehmend das identitätsstiftende Label »Old Europe« gegen die amerikanische Außenpolitik ins Feld geführt. Die Identität und Eigenständigkeit sollte auf internationaler, weltpolitischer Ebene »behauptet« werden, so formuliert es der EU-Vertrag von 1992 und auch die Amsterdamer Regierungskonferenz 1996 im Vorfeld der Erweiterung der EU.

Ein »Symposium über die Ursprünge des vereinten Europa« von 1979 befasste sich damit, eine gemeinsame europäische Geschichte zu schreiben und ein historisches Gedächtnis daran heraus zu bilden. Gerade in diesem Jahr, anlässlich der verschiedenen europäisch begangenen Gedenktage an Ereignisse des zweiten Weltkrieges (D-Day, Warschauer Ghetto Aufstand) kann gut beobachtet werden, wie aus der Not, dass die europäische Geschichte hauptsächlich die Geschichte eines aggressiven, gegeneinander gerichteten Nationalismus war, eine Tugend gemacht wurde. In den Verlautbarungen diverser politischer Reden wurde die Identität Europas vielmehr aus der Differenz zwischen negativer Vergangenheit und positiver Zukunft konstruiert. (7) Die Shoah und der zweite Weltkrieg werden so zum Gründungsmythos der EU, die Rolle der Täter und Opfer in angeblichem gemeinsamem Leiden eingeebnet.(8)

(7) Ein Beispiel aus der Ansprache Gerhard Schröders zum 60. Jahrestag des D-Days, zu der zum ersten Mal ein deutscher Politiker geladen wurde: »Wir schauen auf die Schlachtfelder Europas in großer Trauer. Umso dankbarer sind wir dafür, dass Frankreich und Deutschland heute einander näher stehen als je zuvor. Aus nationalsozialistischem Irrsinn ist europäische Partnerschaft geworden. Lassen sie uns diesen Tag des Erinnerns nutzen, um unser Friedenswerk voranzutreiben. […] Denjenigen, denen vor 60 Jahren dieses glücklichere Leben verwehrt wurde, gilt unsere Erinnerung unser tiefer Respekt. Ihr Tod war nicht vergeblich: Wir leben in Freiheit und Frieden. Dafür danken wir ihnen.«, zitiert nach Blätter für deutsche und internationale Politik 7/04, S. 894
(8) Mit aktuellen Erscheinungsformen von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur befasst sich das D-A-S-H Dossier #11 ausführlich

Der Entwurf einer gemeinsamen Verfassung, auch ein wichtiges Element bei jeder Nationenbildung, ist ein Versuch, die aus Geschichte, Mythologie und Selbsteinschätzung gewonnenen, kulturellen Werte politisch handlungsleitend festzuschreiben und zur gesetzesmäßigen Grundlage einer EU-Bürgerschaft zu machen. Der Verfassung zufolge steht Europa für jahrtausend alte Traditionen, das Beherzigen geschichtlicher Lehre und sein antikes Erbe, was Europa zu einer nachhaltigen, sozialen, fortschrittlichen, solidarischen und friedlichen Politik verpflichte. Europa stehe für »Beseitigung der Armut«, das »Wohl all seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten« und den Kampf gegen »soziale Ausgrenzung und Diskriminierung«, für »Menschenrechte«, »Völkerrecht«, Gleichberechtigung und Generationengerechtigkeit. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die der Bildung einer europäischen Identität gemeinhin positiv gegenüber steht, interpretierte, dass diese Selbststilisierung Europas als »Abgrenzung gegenüber Amerika verstanden werden« kann.(9)

(9) s. Schneider (2004)

Teil der europäischen Identitätsbildung ist die Konstruktion von Feindbildern und die Bestimmung von Zugehörigkeit und Ausschluss. Besonders die klar definierten und gesicherten Außengrenzen, eine gemeinsame Staatsbürgerschaft und ein europäischer Pass zeigen an, wer dazugehört und wer nicht. Angesichts der Debatten um illegalisierte Migration, der Aufrüstung der EU-Außengrenzen, bzw. der Abschottung der EU vor Flüchtlingen durch ihre so genannte »herkunftsnahe Unterbringung« könnte man von einer Art Nationalismus im großen, europäischen Stil sprechen: durch die Öffnung der Binnengrenzen, ist nun die Einwanderung an den Außengrenzen und damit die Grenzpolitik der »äußeren« EU-Staaten relevant geworden. Bei den Beitrittsverhandlungen war kein Thema so brisant, wie die Übernahme der Schengenkriterien(10) durch die neuen EU-Mitgliedstaaten. Der raschen Vergemeinschaftung der EU-Migrationspolitik entspricht die Entstehung des Feindbildes des/der »illegalen MigrantIn« auf europäischer Ebene, befinden sie sich noch vor den Grenzen oder schon eingewandert auf EU-Territorium. Identitäre Grenzziehungen verlaufen zunehmend weniger zwischen einzelnen Nationalstaaten, denn zwischen Einheimischen und ImmigrantInnen.(11)

(10) Im so genannten Schengener Abkommen sind Kriterien festgeschrieben, die den Wegfall der EU-Binnengrenzen und die damit einhergehende stärkere Kontrolle von Einwanderung an den Außengrenzen regeln; es wurde 1995 von Deutschland und Frankreich initiiert.
(11) Vgl. Kohli (2002), S. 126

Inwieweit die Herausbildung einer europäischen Identität messbar und vorangeschritten ist, darüber herrscht Uneinigkeit. Erkennbar ist aber eine zunehmende Tendenz von identitätsstiftenden Initiativen, die nicht vielmehr als die Wiederholung nationalistischer Schemata auf europäischer Ebene sind und so eine europäische Herrschaftsordnung und deren Ausschlussmechanismen untermauern.

Anna Pollmann studiert Kulturwissenschaften und Geschichte an der Universität Leipzig

Literatur

  • Duchesne, Sophie; Frognier, André-Paul: Is There an European Identity? In: O. Niedermayer, R. Sinott (Hrsg.): Public Opinion and Internationalized Governance, Oxford 1995, S. 193-226.
  • Kohli, Martin: Die Entstehung einer europäischen Identität: Konflikte und Potentiale, in: Kaelble, Hartmut; Kirsch, Martin; Schmidt-Gernig, Alexander (Hg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt / Main 2002, S. 111-133.
  • Kaelble, Hartmut; Kirsch, Martin; Schmidt-Gernig, Alexander (Hg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt / Main 2002.
  • Reden zum Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie am 6. Juni 2004, aus: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, Juli 2004.
  • Schneider, Mark: Wir Europäer, in: Jungle World 31/2004
  • Walkenhorst, Heiko: Europäischer Integrationsprozess und europäische Identität, Baden-Baden 1999.

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