»Hier geblieben – Es gibt kein Weg zurück!«

Anfang dieses Jahres bat der Flüchtlingsrat Berlin das GRIPS Theater um Hilfe, denn Kinder und Jugendliche verschwinden – weil sie von der Polizei aus dem Unterricht zur Durchführung der Abschiebung abgeholt werden.

Seit dem Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes(1) am 1. Januar 2005 ist die Situation der in Deutschland lebenden 200.000 »geduldeten« Flüchtlinge unklarer als je zuvor. Kinder und Jugendliche, die hier geboren sind oder den größten Teil ihres Lebens in Deutschland verbracht haben, trifft dies mit besonderer Härte. Sie verlieren ihre FreundInnen und sprechen oftmals nicht einmal die Sprache des Landes, in das sie abgeschoben werden.

Aus diesem Grund haben der Flüchtlingsrat Berlin, die GEW Berlin und das GRIPS Theater am 5. April 2005 gemeinsam das Aktionsprogramm HIER GEBLIEBEN! Für das Bleiberecht von Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien gestartet. Es unterstützt die vor über zwei Jahren von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis initiierte Bleiberechtskampagne für asylsuchende und geduldete Flüchtlinge, die seit langem hier leben.(2)

Dossier #15: Eckpunkte der Diskussion um das neue Zuwanderungsgesetz für Deutschland, "offene Grenzen", die Visa-Affäre, Einreise und Einwanderung in Europa

  1. Einreise und Zuwanderung in Deutschland
  2. Deutsche Einwanderungspolitik
    (Anna Pollmann)
  3. Das »neue« Einwanderungsgesetz
    (Doris Müller)
  4. Interview mit Volker Maria Hügel
  5. Neuregelung der jüdischen Einwanderung
    (Daniela Schmohl)
  6. »Hier geblieben – Es gibt kein Weg zurück!«
  7. The VOICE Refugee Forum in Deutschland
  8. MOV!NG ON
    (Zala T. S. Unkmeir)
  9. Weiterführende Materialien

Das Beispiel der Tanja Ristic, die im August 2004 aus der Schule geholt wurde, um die Abschiebung gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester nach Bosnien-Herzegowina durchzuführen, diente als Vorbild für das im Rahmen des Aktions-programms entstandene Theaterstück »Hier geblieben!«. Entsprechend dem Beispiel der Klasse von Tanja, die sich für ein Bleiberecht ihrer Mitschülerin eingesetzt hatte, sollte das Aktionsprogramm andere Schülerinnen und Schüler ermutigen, sich im Interesse von Flüchtlingen einzumischen.

(1) Siehe Das neue Einwanderungsgesetz. Was besagt es? in diesem Dossier
(2) Informationen zur Kampagne gibt es u.a. beim Flüchtlingsrat Brandenburg.

Tanja hat wie ihre Mutter im Rahmen der Härtefallregelung im Juni diesen Jahres eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Sie können zumindest kurzzeitig den bereits nach Bosnien abgeschobenen Vater und Ehemann sowie die ältere Schwester und Tochter wieder-sehen.
Der Fall von Tanja ist kein Einzelfall. Nicht immer konnte durch einen Antrag bei der Härtefallkommission die Abschiebung verhindert werden. Die folgenden Berliner Beispiele von Abschiebungen (unter Hinnahme der Trennung von Familienangehörigen) machen deutlich, wie sehr eine Bleiberechtsreglung nötig ist.

Beispiele für drohende oder bereits vollzogene Abschiebungen

  • August 2004:
    Saud H. wird aus der Abschiebungshaft nach Bosnien abgeschoben. Seine Frau und die drei minderjährigen Kinder verbleiben in Berlin. Die Familie lebte seit 11 Jahren in Berlin.
  • August 2004:
    Nazri R. wird – nachdem er sich seit August 2004 in Abschiebehaft befand – in den Kosovo abgeschoben. Er lebte seit 1989 in Berlin. Da er von seiner Frau und seinen drei Kindern getrennt wurde, widersprach die UNMIK in Pristina der Rückführung. Aus Sicht der UN-Verwaltung verstieß die Abschiebung gegen internationales Recht. Nach zwischenzeitlicher Inhaftierung in Frankfurt/Main konnte der 55-Jährige wieder nach Berlin zurückkehren.
  • November 2004:
    Cefsere V. – die 26jährige Tochter eines ehemaligen Gastarbeiters (seit 1969 in Deutschland) – wird in Abschiebehaft genommen. Sie floh mit ihrem Bruder und ihrer Mutter nach Kriegsausbruch (1998) im Kosovo nach Deutschland. Eine Familien-zusammenführung ist nach deutschem Ausländerrecht nur im Fall von Ehepartnern und minderjährigen Kindern (bis zum 16. Lebensjahr) möglich. Cefsere wurde zwischen-zeitlich aus der Haft entlassen und bleibt von Abschiebung bedroht.
  • November 2004:
    Die Geschwisterkinder Mimozi (geboren 1997) und Mergim (geboren 1993) wurden am 10.11.2004 im Beisein der Mutter der Kinder aus ihren Klassen der Humboldthain-Grundschule in Berlin-Mitte heraus von der Ausländerpolizei in Abschiebegewahrsam genommen. Die allein stehende Frau wurde mit ihren drei Kindern in den Kosovo abgeschoben.
    Von Seiten der Berliner Innenverwaltung hieß es dazu, dass es sich nicht immer vermeiden lässt, dass die Kinder aus der Schule geholt werden.
  • Dezember 2004:
    Das ältere bosnische Ehepaar Memmuna und Omer H. soll in Abschiebehaft genommen werden. Wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes sind sie nicht haftfähig und müssen in einer Klinik behandelt werden. Der Arbeitgeber ihrer Söhne macht den Fall öffentlich. Die Abschiebung kann wegen der Anmeldung bei der Härtefallkommission vorerst ausgesetzt werden. Die bosnischen Flüchtlinge leben seit 1994 in Berlin.
  • Februar 2005:
    Die Berliner Ausländerbehörde schiebt Hanusa V., allein erziehende Mutter von vier minderjährigen Kindern, nach Bosnien ab. Die Kinder verbleiben in Berlin bei der Familie des Großvaters. Hanusa floh 1991 aus dem ehemaligen Jugoslawien in die Bundesrepublik. Zwei ihrer Kinder wurden hier geboren.
  • April 2005:
    Die Berliner Härtefallkommission spricht sich für die Gewährung eines Aufenthaltsrechts für die kurdische Familie B. aus der Türkei aus. Die Eltern mit den zwei Kindern (die jüngste Tochter ist noch minderjährig) leben seit 1996 bzw. 1997 in Berlin. Frau B. befindet sich wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung in therapeutischer Behandlung.
    Der Innensenator gibt dem Ersuchen der Härtefallkommission nicht statt. Eine nachfolgend eingereichte Petition bleibt ebenso erfolglos. Familie B. ist akut von Abschiebung bedroht.

Das erste Etappenziel des Aktionsprogramms »Hier geblieben!« wurde im Juni in Stuttgart mit der Innenministerkonferenz erreicht. Der Berliner Innensenator Ehrhart Körting fand mit seinem Vorstoß für eine Bleiberechtsregelung für Kinder und Jugendliche unerwartete Unterstützung von Seiten des Bundesinnenministers. Somit verhallten die Bleiberechts-forderungen, die zuvor auf einer Kundgebung vor dem Bundesinnenministerium laut wurden, nicht ungehört. Bekanntlich fand der Vorschlag aber keine politische Mehrheit.
Eine Bleiberechtsregelung für asylsuchende oder geduldete Flüchtlinge darf nicht zum Spielball kurzfristiger Interessen im Bundestagswahlkampf werden.
Abschiebungen von Menschen, die in unserer Mitte leben, reißen Lücken. Ihr Verlust wird wahrgenommen, sei es bei FreundInnen, NachbarInnen, MitschülerInnen oder ArbeitskollegInnen. Dies politisch zu verhindern liegt in der Verantwortung der auf Landes- und Bundesebene Regierenden.

Das Aktionsprogramm »Hier geblieben!« wird fortgesetzt. Das nächste Etappenziel ist die kommende Innenministerkonferenz in Karlsruhe im Dezember 2005.

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