Sekundärer Antisemitismus in Deutschland nach 1945

von Thomas Haury

»Nation« ist immer eine »vorgestellte Gemeinschaft-in-der-Geschichte«. Nach 1945 steht deshalb jeder, der sich in Deutschland mit dem »deutschen Volk«, der »deutschen Nation« identifizieren will, vor dem Problem, dass von diesem Land das Menschheitsverbrechen der Vernichtung der europäischen Juden begangen wurde. Treitschkes Schlachtruf »Die Juden sind unser Unglück« hat daher nach 1945 eine völlig neue Brisanz bekommen. Alles Jüdische erinnert unausweichlich an die »deutsche Tat« Auschwitz und steht damit der ersehnten »nationalen Identität« im Weg. Das wiederum ruft erneute Aggressionen gegen die Juden hervor, insbesondere dann, wenn Juden gar noch explizit die Erinnerung an Auschwitz einfordern. Es erscheint paradox, aber die vollzogene Vernichtung der Juden wird in Deutschland zu einer neuen Quelle einer neuen Form von Antisemitismus, dem sog. sekundären Antisemitismus.

Die gewissermaßen einfachste Möglichkeit, eine positiven »nationale Identität« zu retten, ist daher die Leugnung des Holocaust, wie sie Neonazis und Rechtsextreme praktizieren: »Das ist alles nur eine jüdische Lüge. Die Juden hassen die Deutschen schon immer. Jetzt haben sie auch noch Auschwitz erfunden.«

Entscheidend in Hinblick auf den Antisemitismus in der Linken sind die beiden Methoden der Relativierung von Auschwitz. Die erste argumentiert: »Gulag in der Sowjetunion, Ausrottung der Indianer in den USA, Massenmord an den Armeniern durch die Türkei – andere haben doch ebenso böse Taten vollbracht, so besonders war die Judenvernichtung also gar nicht. Also schwamm drüber.«

Während die erste Methode der Relativierung andere als ebenso schlimme Täter hinstellt, reklamiert die zweite für die Deutschen den Opferstatus: »Wir waren auch Opfer und haben viel gelitten: unter den Versailler Verträgen, unter den Krisen in der Weimarer Republik, unter dem Dritten Reich, unter dem alliierten Bombardement, unter der Nachkriegsnot und heute immer noch unter Schuldvorwürfen.«

An beide Relativierungsweisen schließt sich immer die berühmte Schlussstrichforderung an: Es gebe keine Schuld, oder wenn es eine gegeben haben sollte, sei sie längst verjährt. Jetzt müsse endlich einmal Schluss sein.

In allen diesen drei Strategien – Leugnung, Relativierung und Schlussstrichforderung – steckt der gleiche Mechanismus: die Verkehrung von Täter und Opfer. Die Deutschen sind Opfer und die Anderen sind die schuldbelasteten Täter.

Am gewinnbringendsten für die Entlastung der »Nation« allerdings ist es, diese Umkehrung an der Opfergruppe per se, an den Juden selbst zu praktizieren. In zahlreichen Varianten wird daher immer wieder eine jüdische (Mit-)Schuld und (Mit-)Täterschaft herbeikonstruiert. Insbesondere die Schlussstrichforderung wird aggressiv gegen die Juden gewendet. Jedwedes Erinnern an Auschwitz wird gedeutet als Ausdruck jüdischer Geldforderungen und jüdischer Rachsucht, die sich an den armen Deutschen austobe. Die Juden werden zu böswilligen Erpressern und Angreifern, die armen Deutschen von heute zu angegriffenen Opfern, die unter ungerechtfertigten Anschuldigungen von Juden leiden oder von diesen gar zu ständigen Wiedergutmachungszahlungen erpresst werden.

Man muss gar kein klassischer Antisemit, sondern nur so deutsch-national wie ein am Bodensee lebender Dichter sein, und schon fühlt man sich ständig verfolgt und von der »Auschwitzkeule« bedroht. Dies funktioniert nach dem klassischen Muster der Projektion: Die Stimme des eigenen schlechten nationalistischen Gewissens – »Wir, die Deutschen haben Verbrechen begangen« – wird nach außen, auf die Juden projiziert und an diesen bekämpft. Man fühlt sich bedroht von der Moralpistole, die einem auf die Brust gesetzt wird, und wieder muss man sich notwehren. Henryk M. Broder hat diese ideologische Disposition derer, die sich mit der deutschen Nation identifizieren wollen polemisch auf den Punkt gebracht: »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.«

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