Dialog mit dem Feind

von Ute Hempelmann

Über das jüdisch-palästinensische Begegnungsprogramm »Kinder lehren Kinder«

Das erste Treffen – anders als gedacht

Ahron, Tal und Kim sitzen mir in ihrem Klassenzimmer gegenüber. Die Achtklässler sind Teilnehmer des Projekts »Kinder lehren Kinder« – ein zweijähriges (!) Begegnungsprogramm für jüdische und palästinensische Schulklassen in Israel. Angeboten wird es von »Givat Haviva«, einem Bildungsinstitut in Israel. Die Schulklassen nehmen ausschließlich auf freiwilliger Basis teil.

Ein Jahr lang haben sich zwei Klassen, eine jüdische und eine palästinensische, auf dieses erste Treffen miteinander vorbereitet. Haben, jede Gruppe für sich, mit ihren Lehrern in zwei zusätzlichen Wochenstunden über Vorurteile nachgedacht – die eigenen und die der anderen. Haben darüber gesprochen, was sie geprägt hat, welche Rolle ihre Religion spielt, ihre Geschichte oder auch: ihre Geschichten. Haben versucht herauszufinden, wie all das ihre Identität geprägt hat und prägt. Was Juden und Moslems trennt und verbindet in Israel. In dieser Weise vorbereitet und möglichst offen wollten sie in die Begegnung wagen, eine Begegnung mit »dem Feind«.

Gute Vorsätze hatten sie alle. Und doch ist es anders gekommen als erwartet, wie die jüdischen Kinder unumwunden zugeben. »Zu Beginn des Treffens war gleich dicke Luft«, meint Kim stirnrunzelnd. »Die Araber waren extrem gut informiert über Politik, aber das ist gar nicht unser Interesse. Ich habe gedacht, sie wollten wissen, wie jüdische Kinder ihre Freizeit verbringen, aber sie hatten nur Politik im Kopf.«

Tal bringt mehr Verständnis auf: »Ich wusste, dass sie verletzt sind, eine Art Minderwertigkeitskomplex haben und war überrascht, dass ich so gut auf ihre Gefühle eingehen konnte.«

Wieder anders geht es Ahron: »Ich hätte es ihnen gern heimgezahlt. Ich wollte weg von all diesen Problemen, aber ich habe das nicht gesagt. Ich habe aus diesem Treffen gelernt, dass ich meine Gefühle beim nächsten Mal offener zeigen will – auch wenn es Rachegefühle sind.«

Geteilte Gesellschaft

Das Gespräch mit Kim, Tal und Ahron findet in Haifa statt. Die Leiterin der »Chogimschule«, die Lehrer sowie Ahrons, Tals und Kims Klasse hat sich nach einigem Hin und Her entschlossen, an dem Projekt des Bildungsinstituts teilzunehmen. In Israel kein selbstverständlicher Schritt: Juden und palästinensische Israelis (die also nicht in den besetzten Gebieten leben, sondern Staatsbürger Israels sind und dort rund 15 % Prozent der Bevölkerung ausmachen) besuchen unterschiedliche Schulen und haben auch sonst wenig miteinander zu tun. Man geht sich aus dem Weg so gut es geht. Nicht erst seit den jüngsten Attentaten. Seit Jahren. Jahrzehnten. Man spricht über – aber kaum miteinander. Das Wissen über »die anderen« liefern selten persönliche Kontakte und oft die Berichte in den Medien. Die scheinen die (Vor-) Urteile eher zu bestätigen als in Frage zu stellen. Was wiederum Grund genug ist, nicht aufeinander zuzugehen.

Eine geteilte Gesellschaft. Das gilt auch für Nazareth. Es gibt es oberen Teil, in dem die Juden wohnen und den unteren, in dem die Palästinenser zu Haus sind. Rosina und Wasif zum Beispiel. Der 14 jährige kann seine Genugtuung über das erste Treffen mit den jüdischen Schülern kaum verhehlen: »Die waren ziemlich überrascht, dass wir so selbstbewusst waren. Wir haben mit unserer Meinung nicht hinter dem Berg gehalten. Wir haben zwar Rechte in Israel, aber nicht die gleichen. Zum Beispiel Nazareth. Es gibt unseren Teil der Stadt und den der Juden und der ist einfach viel besser entwickelt. Das gleiche trifft auch auf die Schulen zu.«

Es ist, als hätten sie die Rollen vertauscht. Im Alltag scheinbar angepasst und zurückhaltend, mal unterschwellig – aggressiv, mal demütig bis devot, hatten die Palästinenser beim Treffen ihrem Ärger und ihrem Frust Luft gemacht. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, wie Clara Schaschrawi zu Bedenken gibt. Die flott gekleidete Palästinenserin unterrichtet Arabisch an Rosinas und Wasifs Schule:»Ein beliebtes Thema im Unterricht sind die Vorurteile, die Juden über Araber haben. Zu meiner Überraschung hatten meine Schüler aber auch ein ziemlich vorgefasstes Bild von Juden. Sie betrachteten sie als Helden, als Supermänner oder Superfrauen. Sie dachten, die Juden hätten die Macht, alles zu tun, weil das ihr Land ist. Dennoch glaubten meine Schüler, irgendwie auch in dieses Land zu gehören, wenngleich sie ihre Geschichte nicht kannten. Sie wussten gar nicht, dass das mal Palästina war und ihren Vorfahren gehörte, bis die Juden kamen. Das Wissen hat sie verändert, sie haben jetzt mehr Zutrauen zu sich.«

Vom Umgang mit Gefühlen

Eben dieses Zutrauen, dieses »neue« Selbstbewusstsein der Palästinenser hatte die jüdischen Kinder beim Treffen überrumpelt, ja fast schockiert. Und überaus unterschiedliche Reaktionen ausgelöst: Bei Ahron Wut, bei Tal Verständnis, Zurückhaltung bei Kim. Genau darum geht es. Gefühle – egal welche – sind erwünscht . Und eben das unterscheidet »Kinder lehren Kinder« von vielen anderen Begegnungsprogrammen. Statt »fröhlichem Falafelessen« geht es zur Sache. Denn nur, wenn der Konflikt, die Aggressionen, die Bedenken und Vorurteile zur Sprache kommen, ist – dauerhaft – eine Veränderung möglich, so die Organisatoren von Givat Haviva. Das psychologisch geschulte Personal, Juden wie Palästinenser, greifen lenkend in den Prozess ein, wenn es nötig wird. Wenn ein Teilnehmer fertig ist, wenn eine Gruppe droht, den Kontakt abzubrechen. Was selten geschieht. Irgendwie scheinen alle zu begreifen, wie notwenig ein ehrlicher Umgang miteinander ist. Und dass streiten besser ist als gar keinen Kontakt zu haben. Eben das ist ja seit Jahren die Situation in Israel.

Preisgekrönt und bewährt – auch im Ausland

Seit 15 Jahren existiert das Programm und hat damit schon einige, schwierige Zeiten überstanden. Die erste Intifada. Auch derzeit wird das Programm fortgesetzt, es gibt phasenweise sogar mehr Teilnehmer als zu Friedenszeiten. Rund 32 Klassen nehmen jährlich teil, 18.000 Kinder und Jugendliche waren es insgesamt. Jede(r) Einzelne hat einen entscheidenden Schritt getan, sich der Spirale aus Gewalt und immer neuem Hass entgegengestellt. Was schwierig ist in einem Land, in dem die Mehrheit die Hoffung auf Verständigung aufgegeben zu haben scheint.
Für die »Schwerstarbeit in Sachen Frieden« hat das jüdisch – arabische Institut von Givat Haviva 2001 den Friedenspreis der UNESCO eingeheimst. Motivation für die Mitarbeiter, auf diesem Wege weiterzumachen. Zumal sich das Projekt, das auch auf der »Expo 2000« in Hannover vorgestellt wurde, längst in anderen Krisenregionen der Welt bewärt hat. Givat Haviva »exportiert« es zum Beispiel nach Bosnien – Herzegowina, wo ebenfalls Probleme zwischen Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit brodeln.
Unter Umständen gibt es »Kinder lehren Kinder« in absehbarer Zeit sogar in Deutschland. In Deutschland? Ja, in Deutschland. Auch hierzulande geht man sich aus dem Wege, gibt es Spannungen. Zum Beispiel zwischen Deutschen und Ausländern. Auch wir haben Vorurteile und beziehen unser Wissen ganz wesentlich aus »zweiter Hand«, vermittelt durch Medien. Persönliche Kontakte? Mangelware. Vorurteile kann man aber am besten durch »Begegnungen« korrigieren. »Alles wirkliche Leben ist Begegnung«, hat der jüdische Philosoph Martin Buber mal gesagt. Und Begegnungen, offene und ehrliche Begegnungen brauchen wir. Nicht nur in Israel.

Ute Hempelmann ist Dipl. Soziologin und war 10 Jahre Redakteurin beim NDR, davon ein Jahr in Israel. Seit 1 ½ Jahren ist sie selbständig und arbeitet als freie Autorin und (Jugend – ) Referentin. Seminare und Workshops zu den Themen: Konflikt, Kommunikation und interkultureller Dialog.

Kontakt: klartext_uh@yahoo.de

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